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Mittwoch, 21. August 2024

The Blackstone Magazine # 9

The Black Stone Magazine # 9

Der Talisman - Teil 3

Vorwort

Ich freue mich an dieser Stelle mit „Der Talisman“ eine dreiteilige Horror-Kurzgeschichte des Autors Volker Dützer  präsentieren zu können, mit dem ich Anfang Juli ein Interview geführt habe, und wünsche allen Besuchern des „The Black Stone Magazines“ viel Spaß beim Lesen des  dritten und letzten Teils....

Ingo Löchel, 20. August 2024


Über die Kurzgeschichte „Der Talisman“

Unheimliche Geschichten haben mich schon immer fasziniert. Meinen ersten Kontakt mit dem Genre hatte ich während der Schulzeit. Beim Durchstöbern der kleinen Bibliothek des Gymnasiums, das ich besuchte, stieß ich auf Anthologien mit Horrorgeschichten, die ich begeistert verschlang.

Leider waren die Bücher sehr begehrt und meistens ausgeliehen, so dass ich ständig auf der Jagd nach ihnen war. Die Namen der Autoren haben ich vergessen, aber der Nervenkitzel beim Lesen und die Faszination für solche Geschichten ließen mich nie wieder los.

In späteren Jahren wurde ich ein großer Fan von Stephen King und Dean Koontz. In der Rückschau finde ich Kings Bücher heute oft zu langatmig, und das Ende meistens enttäuschend. Koontz habe ich es zu verdanken, dass ich mit dem Schreiben begann.

An ihm schätze ich bis heute die Meisterschaft, mit der er Romanfiguren zum Leben erweckt, und wie er den Leser mit wenigen Zeilen in seine Geschichte hineinsaugt. (Dean, du warst ein guter Lehrmeister, aber deine letzten Bücher haben mich doch arg enttäuscht.)

Meine ersten Schreibversuche waren – wen wundert es? – Horrorgeschichten. Viele von ihnen sind leider verlorengegangen, einige wenige haben den langen Weg von 3,5“ Disketten auf die Festplatte meines Rechners überlebt.

Als ich mich dann irgendwann ernsthaft bemühte, etwas zu verkaufen, musste ich feststellen, dass das Horrorgenre bei Verlagen nicht sehr beliebt ist. Als deutscher Autor, der noch nie etwas veröffentlichte hatte, war es fast unmöglich, Kurzgeschichten an den Mann zu bringen. (Was mich bis heute erstaunt, denn King und Koontz sind nach wie vor sehr beliebt und finden Millionen Leser auf der ganzen Welt.)

Vor einigen Jahren trat meine Karriere als Autor auf der Stelle. Ich musste einige herbe Rückschläge hinnehmen und spielte mindestens zweimal pro Woche mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen.

In dieser Phase kehrte ich zu meinen Anfängen zurück. Ich wollte mich von allen Marktzwängen und dem Schubladendenken der Verlage befreien, schaltete mein Textverarbeitungsprogramm ein und begann zu schreiben.

Seit Tagen spukte die Idee eines Talismans durch mein Schriftstellerhirn, der für die Erfüllung der Wünsche seines Besitzers einen mörderischen Preis verlangt – nicht besonders originell, denn solche Geschichten gibt es vermutlich haufenweise.

Mir ging es allerdings nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern zu meinen Wurzeln zurückzukehren. Also begann ich zu tippen. Ohne Plot, mit nur einer einzigen Idee und der vagen Vorstellung einer Hauptfigur.

„Der Talisman“ habe ich innerhalb von zwei Tagen geschrieben, gewissermaßen ohne Punkt und Komma. Es war mir gleichgültig, ob die Geschichte sich verkaufen ließ und in eine Schublade passte.

Meine Agentin sagte später, dass es das Beste sei, was ich seit Langem produziert hatte, einfach weil ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen hatte und meinem Instinkt gefolgt war. Ich habe sie (die Geschichte, nicht meine Agentin) nun für das Black Stone Magazine noch einmal überarbeitet.

Mein Schreibstil hat sich weiterentwickelt, aber auf sprachliche Finessen kommt es mir in diesem Fall nicht an. „Der Talisman“ hat mir auf magische Weise geholfen, als Autor wieder in die Spur zu kommen und mich daran zu erinnern, warum ich schreibe. (Ich hoffe, er verlangt nicht irgendwann seinen Lohn dafür.)

Ich freue mich sehr, dass die Geschichte im „The Black Stone Magazine“ erscheint.

Zum Schluss noch ein Hinweis: Wer mehr über die Figur der Jule erfahren möchte, dem empfehle ich meinen Thriller „Seelensammler“. In ihm habe ich Jules Geschichte weitererzählt.

Volker Dützer, Juli 2024

 

Der Talisman

Teil 3

von Volker Dützer

- 11 -

Es regnete noch immer, als Eddie die Stelle passierte, an der sein VW-Bus stand. Einen Abschleppdienst zu organisieren war im Augenblick sein geringstes Problem, also ließ er den Wagen, wo er war. Kurz darauf erreichte er das Dorf und stellte den Z3 vor der Tankstelle ab. In der Gastwirtschaft auf der anderen Straßenseite brannte Licht.

Aus dem Inneren schlug ihm eine Mischung aus Essensgerüchen und Bierdunst entgegen. Aus dem Radio dudelte leise ein Schlager. Die Ellenbogen gelangweilt auf den Tresen gestützt, saßen dieselben drei Männer wie vor zwei Tagen auf den Barhockern vor der Theke. Auch der Bärtige, der ihm den Mondeo anvertraut hatte, war darunter.

Erstaunt bemerkte Eddie, dass die unsichtbare Mauer um ihn herum und die damit verbundene Angst, sich anderen Menschen zu nähern, nicht mehr so übermächtig war wie bei seinem ersten Besuch. Er ging entschlossen auf den Autohändler zu.

„Ich will Ihnen etwas schenken“, sagte er.

Überrascht drehte der Angesprochene sich um. Eddie hätte schwören können, dass der Mann eine Spur blasser wurde, als er ihn erkannte.

„Sie waren sehr freundlich zu mir. Dafür möchte ich mich bedanken.“

Der Händler schien sich zu entspannen und griff nach seinem Bierglas. „Nicht nötig. Gern geschehen.“

Eddie zog den Talisman aus der Jackentasche und warf ihn über das Glas. Der Lederriemen rutschte auf die Hand des Autohändlers hinab. „Sie werden doch mein kleines Dankeschön nicht ablehnen wollen? Er soll angeblich Glück bringen.“

Der Bärtige schrie auf, ließ das Glas fallen und glitt von seinem Hocker. Das Bierglas zerplatzte klirrend auf dem Boden, Dyllain schwamm in einer Bierlache.

„Warum heben Sie ihn denn nicht auf?“, fragte Eddie lauernd.

Die anderen Männer waren ebenfalls aufgesprungen.

„Hau besser ab, Kleiner“, sagte einer von ihnen.

„Und nimm das verfluchte Ding mit“, kreischte der Autohändler.

„Ich gebe doch nur zurück, was mir nicht gehört.“

„Mach keinen Ärger. Wenn du bei drei nicht verschwunden bist, beziehst du eine Tracht Prügel, bis du um den verdammten Talisman betteln wirst“, sagte der Wirt.

„Ihr habt mich reingelegt.“

„Man sollte eben nicht alles einstecken, was herumliegt. Von uns fasst keiner das Ding an. Wir sind doch nicht verrückt.“

Der Autohändler war aschfahl geworden.

„In den vergangenen sechs Wochen sind vier Leute im Dorf gestorben“, sagte er. „Niemand hat Lust, der nächste zu sein.“

Die beiden anderen näherten sich mit geballten Fäusten. Eddie sah ein, dass er verloren hatte. Freiwillig würde den Talisman niemand nehmen. Er hob ihn auf und wischte ihn an seinem Hosenbein ab.

„Ich werde ihn loswerden. Und dann komme ich wieder.“

„Viel Glück“, sagte der Wirt. „Und jetzt hau ab.“

- 12 -

Eddie bremste und schlug ungeduldig auf das Lenkrad. Seit er die Stadtgrenze von Koblenz überquert hatte, kämpfte er sich durch verstopfte Straßen und Baustellen. Er kam nur langsam vorwärts, fuhr weite Umwege und passierte dabei sein Zuhause. Die verkohlten Balken des Kiosks kamen in Sicht.

Der Verkehr staute sich und kam schließlich zum Erliegen. Blaulicht fetzte durch die Nacht und brachte Millionen Regentropfen zum Funkeln, als fielen winzige blaue Irrlichter vom Himmel.

Von einer bösen Ahnung erfüllt, lenkte er den BMW auf den Parkplatz eines Supermarkts und rannte die letzten zweihundert Meter durch die Nacht. Vor dem Mietshaus parkte ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Ein Notarztwagen rollte durch das offene Tor auf den Hinterhof, der Gehweg vor dem Haus war mit blauweißen Plastikbändern abgesperrt.

Der Wind zerrte an einer Plane auf dem nassen Asphalt, unter der sich die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten. Eddie bahnte sich einen Weg durch die gaffende Menge und lief durch das Tor. Hartmann saß auf den Stufen zum Hintereingang. Er war kalkweiß und starrte mit versteinertem Blick auf den Boden.

„Was ist passiert?“, rief Eddie.

Der Hausverwalter nahm keine Notiz von ihm. Eddie schüttelte ihn an der Schulter, bis er reagierte.

„Hartmann! Was ist hier los?“

„Sie ist gefallen“, sagte er.

„Wer?“

„Marianne. Ich hab ihr gesagt, sie soll die Fenster auf der Straßenseite putzen. Sie ist von der Leiter abgerutscht und gestürzt. Sie war sofort tot.“

Der Notarzt drängte Eddie zur Seite. Er verließ betäubt den Hinterhof. Eine Windbö hob die Plastikplane an und gab den Blick auf Hartmanns Frau frei. Sie trug einen Kittel und hielt noch immer einen Putzlappen umklammert. Welches Geschenk hatte der Talisman dem grantigen Hausmeister gemacht, nachdem er ihn aufgehoben hatte? Oder war alles nur Zufall?

Eddie lief zu seinem Wagen zurück und fuhr über Umwegen nach Kesselheim. Als der kasernenartige Wohnblock in Sichtweite kam, in dem Jule wohnte, konnte er seine Angst kaum noch beherrschen. Hatte der verfluchte Dämon sie ebenfalls geholt?

- 13 -

Das Leben von Jule Rahn war so aufregend wie das Ticken einer Bahnhofsuhr. Sie mochte es, wenn Ereignisse vorhersehbar waren. Alles hatte seine Zeit, seine Ordnung und seinen festen Platz. Wenn etwas geschah, das ihren Tagesablauf durcheinanderbrachte, reagierte sie mit Panik.

Es gab graue und bunte Tage. Die bunten Tage waren selten, aber umso intensiver. Doch sie bedeuteten auch Furcht und Chaos. Es bedurfte mehrerer grauer Wochen, um sie zu verarbeiten und schließlich zu vergessen.

Der Tag, an dem Eddie in ihr Leben getreten war, flackerte grell und psychodelisch wie ein Kaleidoskop in ihrem Kopf. Er weckte verdrängte Hoffnungen und Träume, die sich doch niemals erfüllen würden.

Es war beängstigend und anstrengend. Sie teilten die gleiche schreckliche Vergangenheit und wussten doch nichts voneinander. Dennoch empfand Jule eine tiefe Vertrautheit zu dem seltsamen Eddie, ganz so als würden sie sich schon ewig kennen. Obwohl Jule es niemals offen zugeben würde, war sie gern mit ihm zusammen, auch wenn die Aussicht auf ein neues Treffen Unruhe und Furcht in ihr auslöste.

Es kostete Jule enorme Kraft und Willensanstrengung, zu akzeptieren, dass ein Mann sich für sie interessierte. Dass Eddie an ihrem Leben teilnehmen wollte - wenn auch in allerbester Absicht – überforderte sie völlig. In ihrer verschrobenen Vorstellungswelt teilte sie Menschen in zwei Kategorien ein: in Katzen und Mäuse. Sie selbst zählte sich zur Gattung der Mäuse, also musste sie sich vor den Katzen hüten.

Die meisten Männer gehörten zu den Katzen, richtigerweise zu den Katern. Zu ihrer Verwirrung passte Eddie in keine ihrer selbst erdachten Schubladen. Um dennoch kein Risiko einzugehen, hatte sie beschlossen, ihn sicherheitshalber nicht wiederzusehen.

An diesem vorhersehbaren Mittwochabend trug Jule um exakt 20:30 Uhr eine Tasse mit grünem Tee von der Küche ins Wohnzimmer und stellte sie auf einem Tischchen neben ihrem Sessel ab. Die Wahl der Teesorte hatte sie vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt. Vielleicht sollte sie eine Liste erstellen, um den Wochentagen eine bestimmte Sorte zuzuordnen. Ja, das war eine hervorragende Idee. Mit Ordnung ließ sich jedes Problem lösen.

Jule setzte sich in den Sessel neben dem Fenster und nahm Stift und Papier in die Hand, als die Türklingel läutete. sie setzte sich kerzengerade auf und lauschte. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Niemand besuchte sie, weil niemand einen Grund dazu hatte.

Sie pflegte keine Freundschaften, ihre einzigen Kontakte waren die alten Menschen, die im Haus lebten. Mit angehaltenem Atem horchte sie in die Stille hinein. Wieder erklang der Türgong, es ließ sich nicht leugnen. Vielleicht konnte sie die Sache aussitzen. Sie würde still und unbeweglich ausharren, bis der unbekannte Besucher aufgab. Er würde annehmen, dass sie nicht zuhause war.

Aber das war lächerlich. Wenn er klingelte und sich nicht in der Tür geirrt hatte, dann wusste er auch, dass sie zuhause war. Außer den exakt 426 Schritten, die sie von hier bis zur Bushaltestelle brauchte, ging sie nirgendwohin. Außerdem musste er das Licht hinter dem Fenster gesehen haben, als er sich dem Haus näherte.

Aber vielleicht war es einer der Nachbarn. Es kam selten vor, aber manchmal stand die alte Gerda von nebenan vor der Tür, weil sie vergessen hatte, Milch oder Kaffee einzukaufen.

Ein beunruhigender Gedanke zuckte durch ihren überreizten Verstand. Vielleicht war es Eddie. Er war der einzige Mensch, der nicht hier lebte, und den sie kannte. Er hatte sie nach Hause gebracht, daher wusste er, wo sie wohnte. Ob er sie verfolgte? Begann jetzt der Psychoterror eines verrückten Stalkers? Sie hatte darüber gelesen, sie wusste Bescheid.

Nein, sie entschied, dass Eddie wahrscheinlich harmlos war. Die gleiche schreckliche Vergangenheit verband sie, die gleichen Gedanken und Empfindungen. Wenn es einen Menschen gab, der sie verstand, dann war das Eddie.

Trotzdem hatte sie Angst vor ihm. Jule hatte vor jedem Menschen Angst, manchmal erschreckte sie sogar ihr eigener Schatten. Eddie würde sich in ihr Leben drängen und es durcheinanderbringen, bis ihr der Kopf schwirrte. Das durfte sie nicht zulassen, alles sollte bleiben wie es war. Langweilig und fade wie eine Tütensuppe, aber sicher und vorhersehbar.

Eigentlich hätte sie ihn gerne wiedergesehen, ja sie hatte oft an ihn gedacht und sich Tagträumen hingegeben, in denen er sie aus ihrem Eremitendasein riss und sie zusammen durchbrannten. Sie streiften die Vergangenheit ab wie Schlangen ihre alten Häute und begannen ein neues, aufregendes Leben.

Verzweifelt rang Jule mit dem widerstrebenden Gefühlschaos, bis ihr Mut schließlich siegte. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür und wagte es, durch den Spion zu blicken.

Es war tatsächlich Eddie. Er trat unruhig von einem Bein auf das andere und schickte sich an, zu klopfen.

„Jule! Mach auf, ich weiß, dass du da bist. Lass mich bitte rein, weil … weil …“

Sie legte die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen Spalt.

„Was tust du hier?“, fragte sie.

„Ich muss dich sprechen, es ist wichtig.“

Sie hatte ihn nie zuvor so nervös gesehen.

„Warum?“

„Du bist vielleicht in Gefahr“, sagte er.

„Ich verstehe nicht …“

„Ich erklär’s dir.“ Er blickte sich hektisch um, als würde er verfolgt. „Aber nicht hier.“

Jule drückte die Tür zu. War das ein Trick, um sie herauszulocken? Ihr Herz pochte einen wilden Trommelwirbel gegen ihre Rippen. Ihre Wohnung war ihre Festung, ihr Versteck vor den Katzen dort draußen, der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte.

Wenn sie Eddie hereinließ, würde sie sich vielleicht nie mehr sicher fühlen. Trotzdem wollte sie ihn sehen. Mit zitternden Fingern zog sie die Kette aus der Schiene und öffnete.

Eddie trat zögernd über die Schwelle. Er war blass und wirkte ängstlicher als sie selbst. In seinem dunklen Haar glitzernden Regentropfen, der Kragen und die Schultern seiner Jacke waren durchnässt.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie.

„Es ist der Talisman.“

Er strich das das nasse Haar zurück und sprudelte eine verrückte Geschichte hervor, der sie nur schwer folgen konnte. Obwohl sie selbst unentwegt Rituale erfand, um ihre Angst zu bekämpfen, teilte sie Eddies Aberglauben nicht. Eine hässliche kleine Figur an einem brüchigen Lederriemen sollte für den Tod dreier Menschen verantwortlich sein? Eddie schien davon überzeugt zu sein, aber Jule hielt es für Unsinn.

Sie streckte die Hand aus. „Gib ihn mir.“

„Bist du verrückt?“

„Ich habe keine Freunde, keine Familie. Ich kenne niemanden. Ich vermisse niemanden und niemand vermisst mich.“

„Bin ich … niemand für dich?“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Das kam davon, wenn man ein Eremitendasein führte.

„Ich wollte dich nicht verletzen. Tut mir leid.“

„Das hast du nicht.“

Er machte einen Schritt auf sie zu und hob die Arme, um ihre Schultern zu streicheln, aber dann schien ihn der Mut zu verlassen. Unwillkürlich wich Jule zurück.

„Das ist nur ein alter Knochen“, sagte sie. „Er hat genauso wenig Macht über dich wie der Erleuchtete. Wir haben überlebt. Nichts kann uns etwas anhaben.“

Hatte sie das gesagt? Das stimmte nicht. Die Welt dort draußen war gefährlich, überall lauerten Bedrohungen. Es ging bereits los. Eddie veränderte sie, ihr Leben, einfach alles.

„Du warst nicht dabei. Die Männer in dem Dorf hatten panische Angst vor dem Talisman“, sagte Eddie. „Der alte Druide hat gesagt, in ihm steckt ein Dämon.“

„Es gibt keine Druiden mehr. Die einzigen Dämonen, die existieren, stecken in unseren Köpfen“, sagte Jule.

Und sind sie erstmal drin, wird man sie nicht mehr los, dachte sie.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Wenn ihr spontaner Plan funktionierte, könnte sie Eddie vielleicht von seinem Aberglauben befreien. Und wenn an der Geschichte doch etwas dran war, würde sie keinen Schaden anrichten.

„Ich kenne jemanden, der nicht mehr lange leben wird“, sagte sie. „Der alte Brockmann. Gestern haben sie ihn in ins Krankenhaus gebracht. Es heißt, es gehe zu Ende mit ihm.“

Eddie blickte sie hoffnungsvoll an.

„Wenn du willst … fahren wir ihn besuchen“, fügte sie hinzu. „Und dann machen wir ihm ein kleines Geschenk.“

Sie muss völlig verrückt geworden sein, um sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

- 14 -

Jule hasste das Gemisch aus Desinfektionsmitteln, Krankheit und Tod, das auf den Fluren aller Krankenhäuser der Welt schwebte. Der neunzigjährige Brockmann lag in einem Zimmer der Palliativabteilung. Als sie den halbdunklen Raum betraten, glaubte sie zunächst, der Alte schlief, doch er war bei Bewusstsein, schlug die Augen auf und lächelte, als er sie erkannte.

„Du bist gekommen“, sagte er mit brüchiger Stimme, „du warst immer da, Jule.“ Sein Blick wanderte weiter zu Eddie. „Und du bist nicht allein gekommen. Willst du mir deinen Freund nicht vorstellen?“

Jule spürte, dass ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Er ist nur ein Bekannter“, antwortete sie schnell.

Brockmann reichte ihr die knochige Hand. „Du bist zu viel allein, Jule. Das ist nicht gut für dich.“

„Wie geht es Ihnen?“

„Ich habe keine Schmerzen. Die Ärzte sagen, es dauert nicht mehr lange.“

„Das ist Eddie. Er möchte Ihnen etwas schenken“, sagte sie.

Eddie suchte in den Taschen seiner Jacke nach dem Talisman und ließ ihn an dem Lederriemen in Brockmanns offene Handfläche gleiten.

„Er soll Glück bringen“, sagte er.

„Dann sollten Sie ihn behalten und Ihrer Freundin schenken. Jule hat ein bisschen Glück verdient. Und ein bisschen Selbstvertrauen noch dazu. Ich kenne niemanden mit einem so großen Herzen und einer so geringen Meinung von sich selbst.“

Jule drückte Brockmanns Finger um den Talisman. „Alles wird gut. Er wird Sie beschützen. Ruhen Sie sich jetzt aus. Wir kommen später wieder.“

Sie verließen das Krankenzimmer.

„Wird er wirklich sterben?“, fragte Eddie.

„Ja.“

„Er mag dich sehr“, sagte Eddie.

„Ich habe nur ab und zu nach ihm geschaut … was man unter Nachbarn so macht.“

„Du kümmerst dich um die anderen alten Leute im Haus?“

„Ja. Sie haben ja sonst niemanden.“

„Es sind die einzigen Menschen, die du an dich heranlässt, hab ich recht?“

„Und wenn schon. Sind sie deshalb weniger wert?“

„Natürlich nicht.“ Eddie fasste sie bei den Schultern und drehte sie zu sich herum. „Schau mich an.“

Unendlich langsam hob sie den Kopf. Er wog so schwer, als wäre er mit Blei ausgegossen.

„Auch ich habe dich sehr gerne, Jule. Und jetzt bin ich frei von diesem … Ding. Alles wird anders werden. Du und ich, wir haben als einzige von 158 Verrückten überlebt, und wir sollten etwas daraus machen.“

Sie antwortete nicht.

„Nun beginnt das Leben!“

Eddie tanzte den Korridor entlang, bis eine Krankenschwester ihm einen strafenden Blick zuwarf.

„Das muss gefeiert werden!“ Er zog an ihrer Hand. „Komm schon. Lass uns etwas Verrücktes machen.“

Widerstrebend und mit einem Hummelschwarm aus Furcht und Hoffnung im Bauch folgte sie ihm in die Eingangshalle. Eddie nahm Anlauf und schlitterte übermütig über den glatten Boden auf die gläsernen Schiebtüren zu.

„Ich könnte die Welt umarmen“, rief er.

Jule sah ihm nach, wie er die Stufen hinunter auf die Straße lief.

„Eddie, warte!“

Doch Eddie sah und hörte sie nicht. Er balancierte mit ausgestreckten Armen den Bordstein entlang und strahlte sie an wie der Vollmond. Dann stolperte er plötzlich, ruderte mit den Armen und fiel auf die Fahrbahn. Ein Lastwagen erfasste ihn und zerdrückte ihn an dem mächtigen Kühlergrill wie ein lästiges Insekt.

- 15 -

Jule hockte auf einem grellorangefarbenem Plastikstuhl und verschränkte die Finger ineinander, bis sie schmerzten. Ab und zu kam ein Chirurg oder eine OP-Schwester aus der Milchglastür, die die Notaufnahme von dem Warteraum trennte.

Niemand gab ihr Auskunft. Nachdem sie eine Stunde gewartet hatte, erkundigte sie sich bei einem Polizisten, der sie zu dem Unfallhergang befragte. Eddie war vor einer halben Stunde verstorben. Seine Verletzungen waren zu schwer gewesen waren, die Ärzte hatten ihn nicht retten können.

So einsam, wie sie immer gewesen war, fuhr sie mit dem Lift ins Erdgeschoss und bat die Mitarbeiterin am Empfang, ihr ein Taxi zu rufen. Dann ging sie von der Eingangshalle zur Straße hinunter. Der Verkehr auf der B9 rauschte gleichgültig vorüber. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor Kurzem ein Mensch gestorben war.

- 16 -

„Ihr Name ist Dobrasch?“, fragte die Arzthelferin in der Rhein-Klinik.

„Winfried Dobrasch. Ich habe einen Termin für eine Computertomografie um 11:00 Uhr.“

„Sie sind Autohändler, nicht wahr?“

„Spielt das eine Rolle?“

Dobrasch war nervös. Vom Ausgang der Untersuchung hing ab, ob er sich einer komplizierten Operation unterziehen musste.

Die Angestellte lächelte. „Nein. Aber mein Mann hat einen Wagen bei Ihnen gekauft. Wir sind sehr zufrieden.“

„Freut mich zu hören“, brummte Dobrasch.

Er hasste es zu warten, je schneller er hier wieder raus war, desto besser.

„Ist bei Innen schon einmal ein MRT gemacht worden?“

„Nein.“

„Leiden Sie unter Platzangst?“

Dobrasch spürte, wie ein einzelner heißer Schweißtropfen an seinem Rückgrat hinablief. Der Gedanke an die enge Röhre, in der man sich fühlte, als würde man mit Gewalt in ein Kanalrohr gepresst, erfüllte ihn mit Panik.

„Ja“, sagte er gepresst.

„Möchten Sie ein leichtes Beruhigungsmittel?“

„Nein, ich schaffe das schon.“

„Gut, dann kommen Sie mit.“

Dobrasch entkleidete sich in einer Kabine. Eine Arzthelferin öffnete die Tür und bat ihn, auf der Liege des Computertomografen Platz zu nehmen.

„Wenn Sie Probleme haben, drücken Sie einfach den Notfallknopf.“

Er nickte krampfhaft, die Liege setzte sich in Bewegung.

„Hier, für Sie.“

Er schloss seine Hand um einen fingerförmigen, kalten Gegenstand.

„Er soll Glück bringen“, sagte die Arzthelferin. „In der Klinik erzählt man, er habe einen alten Mann ins Leben zurückgeholfen, den die Ärzte schon aufgegeben hatten.

Dobrasch richtete sich in Panik auf und stieß mit dem Kopf gegen die Röhre, der Notfallknopf entglitt seinen Fingern. Entsetzt starrte er auf den Talisman in seiner Hand.

Die Maschine begann mit ihrer Arbeit, klopfte, ratterte und brummte wie ein heiß gelaufener Generator. Niemand hörte Dobrasch schreien.

ENDE

 © by Volker Dützer

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