The Black Stone
Magazine # 8
Der Talisman - Teil 2
Vorwort
Ich freue mich an dieser Stelle mit „Der Talisman“ eine dreiteilige Horror-Kurzgeschichte des Autors Volker Dützer präsentieren zu können, mit dem ich Anfang Juli ein Interview geführt habe...
...und wünsche allen
Besuchern des „The Black Stone Magazines“ viel Spaß beim Lesen des zweiten Teils...
Ingo Löchel, 16. Juli 2024
Über die Kurzgeschichte „Der Talisman“
Unheimliche Geschichten haben mich schon immer
fasziniert. Meinen ersten Kontakt mit dem Genre hatte ich während der
Schulzeit. Beim Durchstöbern der kleinen Bibliothek des Gymnasiums, das ich
besuchte, stieß ich auf Anthologien mit Horrorgeschichten, die ich begeistert
verschlang.
Leider waren die Bücher sehr begehrt und meistens ausgeliehen, so dass ich ständig auf der Jagd nach ihnen war. Die Namen der Autoren haben ich vergessen, aber der Nervenkitzel beim Lesen und die Faszination für solche Geschichten ließen mich nie wieder los.
In späteren Jahren wurde ich ein großer Fan von Stephen
King und Dean Koontz. In der Rückschau finde ich Kings Bücher heute oft zu
langatmig, und das Ende meistens enttäuschend. Koontz habe ich es zu verdanken,
dass ich mit dem Schreiben begann.
An ihm schätze ich bis heute die Meisterschaft, mit der
er Romanfiguren zum Leben erweckt, und wie er den Leser mit wenigen Zeilen in
seine Geschichte hineinsaugt. (Dean, du warst ein guter Lehrmeister, aber deine
letzten Bücher haben mich doch arg enttäuscht.)
Meine ersten Schreibversuche waren – wen wundert es? –
Horrorgeschichten. Viele von ihnen sind leider verlorengegangen, einige wenige
haben den langen Weg von 3,5“ Disketten auf die Festplatte meines Rechners
überlebt.
Als ich mich dann irgendwann ernsthaft bemühte, etwas zu
verkaufen, musste ich feststellen, dass das Horrorgenre bei Verlagen nicht sehr
beliebt ist. Als deutscher Autor, der noch nie etwas veröffentlichte hatte, war
es fast unmöglich, Kurzgeschichten an den Mann zu bringen. (Was mich bis heute
erstaunt, denn King und Koontz sind nach wie vor sehr beliebt und finden
Millionen Leser auf der ganzen Welt.)
Vor einigen Jahren trat meine Karriere als Autor auf der
Stelle. Ich musste einige herbe Rückschläge hinnehmen und spielte mindestens
zweimal pro Woche mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen.
In dieser Phase kehrte ich zu meinen Anfängen zurück. Ich
wollte mich von allen Marktzwängen und dem Schubladendenken der Verlage
befreien, schaltete mein Textverarbeitungsprogramm ein und begann zu schreiben.
Seit Tagen spukte die Idee eines Talismans durch mein
Schriftstellerhirn, der für die Erfüllung der Wünsche seines Besitzers einen
mörderischen Preis verlangt – nicht besonders originell, denn solche
Geschichten gibt es vermutlich haufenweise.
Mir ging es allerdings nicht darum, das Rad neu zu
erfinden, sondern zu meinen Wurzeln zurückzukehren. Also begann ich zu tippen.
Ohne Plot, mit nur einer einzigen Idee und der vagen Vorstellung einer
Hauptfigur.
„Der Talisman“ habe ich innerhalb von zwei Tagen
geschrieben, gewissermaßen ohne Punkt und Komma. Es war mir gleichgültig, ob
die Geschichte sich verkaufen ließ und in eine Schublade passte.
Meine Agentin sagte später, dass es das Beste sei, was
ich seit Langem produziert hatte, einfach weil ich meiner Fantasie freien Lauf
gelassen hatte und meinem Instinkt gefolgt war. Ich habe sie (die Geschichte,
nicht meine Agentin) nun für das Black Stone Magazine noch einmal überarbeitet.
Mein Schreibstil hat sich weiterentwickelt, aber auf
sprachliche Finessen kommt es mir in diesem Fall nicht an. „Der Talisman“ hat
mir auf magische Weise geholfen, als Autor wieder in die Spur zu kommen und
mich daran zu erinnern, warum ich schreibe. (Ich hoffe, er verlangt nicht
irgendwann seinen Lohn dafür.)
Ich freue mich sehr, dass die Geschichte im „The Black
Stone Magazine“ erscheint.
Zum Schluss noch ein Hinweis: Wer mehr über die Figur der
Jule erfahren möchte, dem empfehle ich meinen Thriller „Seelensammler“. In ihm
habe ich Jules Geschichte weitererzählt.
Volker Dützer, Juli 2024
Der Talisman
Teil 2
von Volker Dützer
- 5 -
Die defekte Straßenlampe vor dem Mietshaus in Koblenz-Güls flirrte wie das Stroboskoplicht in einer Diskothek. Die Eingangstür stand offen, im Hausflur brannte das Deckenlicht. Hartmann mühte sich mit einem dunkelgrauen Müllsack ab. Er schwitzte und blickte finster um sich.
Eddie verlangsamte seine Schritte, er hatte keine Lust auf ein Grundsatzgespräch über ausstehende Mieten und Zacken in der Statistik. Lieber drückte er sich in den Schatten eines parkenden Lieferwagens und wartete, bis der Hausmeister den Müllsack durch das Tor zum Hinterhof gezerrt hatte.
Auf der anderen Straßenseite blinkte die Leuchtreklame des Kiosks. Der Haarschopf von Goldlocke tauchte hinter dem winzigen Schaufenster auf und verschwand wieder. Eddie kannte ihren Namen nicht, aber er sah die junge Frau jeden Abend von seinem Küchenfenster aus. Wegen ihres knallblonden Haars hatte er sie Goldlocke getauft.
Ab und zu ging er hinüber, kaufte ein paar Zeitungen oder einen Kaffee. Sie wechselten ein paar Worte, aber er fand nie den Mut, sie darüber hinaus anzusprechen.
Doch er träumte von ihr. Er träumte davon, wie sie die unsichtbare Kugel, die ihn von anderen Menschen trennte, zerplatzen ließ wie eine Seifenblase. Die verfluchten Bilder in seinem Kopf, die immer dann auftauchten, wenn er sich jemandem näherte, würden dann endlich verblassen.
Das Mädchen von der Bushaltestellte kam ihm in den Sinn. Ob sie wirklich die Überlebende war? Er hatte sie seit vielen Jahren nicht gesehen, aber er war sicher, dass sie das Mädchen war, das sich unter dem Altar des Erleuchteten versteckt hatte. Sie waren beide erwachsen geworden und hatten sich verändert, aber er hatte deutlich ihre Furcht gespürt und die Mauer, die sie um sich errichtet hatte.
Goldlocke dagegen trug schwarzen Lippenstift und schwarzen Lidschatten, der ihre blauen Augen riesengroß erscheinen ließ. Ihr hellblondes, zu einer Igelfrisur gegeltes Haar stand dazu in krassem Gegensatz.
Sie trug Ohrringe, die aussahen wie Rasierklingen. Wenn sie gähnte, konnte er sehen, dass ihre Zunge gepierct war. Während er das Mädchen von der Haltestelle verwirrende Gefühle in ihm auslöste, lockten ihn Goldlockes körperliche Reize.
In seiner Hosentasche klimperte das Wechselgeld der Busfahrkarte. Er beschloss, hinüber zu gehen und einen Coffee to go zu kaufen. Vielleicht kamen sie ins Gespräch, über dies und das. Er hasste es, angefasst zu werden und brauchte den Abstand um sich herum wie die Luft zum Atmen. Und doch prickelte seine Haut vor Verlangen, wenn er Goldlocke nahe war.
Im Kiosk war es warm. Es roch nach Kakao, die Bücher und Zeitschriften auf dem Ständer neben der Tür verströmten den Duft frischer Druckerschwärze. Eddie mochte diese seltsame Mischung.
Goldlocke schlüpfte durch den Vorhang hinter dem Verkaufstresen.
„Hi“, sagte er.
„Hi.“
Das sagten sie jedes Mal.
Er studierte das Regal mit den Zeitungen und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie fläzte auf einem Hocker und las in einer Frauenzeitschrift. Eddie nahm sich eine Ausgabe von Mysterys.
Er verschlang alles, was es über die Welt des Unerklärlichen zu lesen gab, vom Loch Ness-Monster bis zur Landung von Außerirdischen auf einem Schrottplatz in Wiesbaden. Auf der Theke lag ein Stapel Rubbellose. Aus einer Laune heraus kaufte er drei Stück.
„Vielleicht hab ich ja mal Glück“, sagte er.
„Wer weiß“, sagte Goldlocke.
Sie bearbeitete gelangweilt ihren Kaugummi und gab ihm das Wechselgeld. Eddie achtete darauf, dass sich ihre Hände nicht berührten, obwohl er es sich wünschte.
„Bis dann“, sagte er.
„Tschüssi.“
Sie widmete sich wieder ihrer Zeitung, Eddie verließ den Kisok. Weiter kamen sie nie.
Das Tor zum Hinterhof stand offen. Hartmann war offensichtlich noch immer mit seinem Müllsack beschäftigt. Eddie betrat den Hausflur und hetzte die Stufen zum dritten Stock hoch, bis er außer Atem war. Er suchte in den Taschen seiner Jacke nach dem Wohnungsschlüssel und stieß auf die Figur aus dem Mondeo.
Wie kam sie in seine Jackentasche? Er hätte jeden Eid geschworen, dass er sie nicht eingesteckt hatte.
Er schloss die Wohnungstür auf, warf die Jacke über den Garderobenhaken und legte die Lose auf die Kommode. Dann ging er ins Wohnzimmer und knipste die Leuchte über dem Schreibtisch an. Argwöhnisch betrachtete er die Figur.
Das harte Licht der Lampe erzeugte Kanten und Konturen, wo vorher keine gewesen waren. Allzu wertvoll konnte das merkwürdige Ding nicht sein, dazu war es viel zu hässlich.
Der augenscheinlich ziemlich untalentierte Künstler hatte es aus Elfenbein oder einem anderen mattweißen Material geschnitzt, das Eddie an einen Knochen denken ließ. Das zum Kinn spitz zulaufende Gesicht wurde von schrägstehenden, riesigen Augen beherrscht.
Ein bisschen sahen sie aus wie die Augen der Aliens in den Magazinen, die Eddie las. Eine stilisierte Stachelfrisur umrahmte die Stirn, zwei geschwungene Linien bildeten die Augenlider, setzten sich in der Mitte nach unten fort und deuteten die gerade, lange Nase an. Die Mundwinkel hingen leicht herab. Die dünnen Arme und Beine waren mit Schriftzeichen bedeckt, die Eddie nicht entziffern konnte.
Es handelte sich eindeutig um die Darstellung eines Mannes, der ein langärmeliges Trikot aus kariertem Stoff trug. Dazu eine Hose, die von einem Gürtel gehalten wurde, auf der er weitere Zeichen entdeckte. Je länger die Lampe die Figur erwärmte, desto stärker wurde der muffige Geruch, der Eddie schon im Wagen aufgefallen war.
Ihre Berührung löste in ihm Unbehagen aus. Er hatte das Gefühl, als ob die Figur unter seinen Fingern erwachte und lebendig wurde.
In den Vertiefungen und Kerben hatte sich hartnäckiger Schmutz angesammelt, die matt schimmernden Oberfläche war mit einer schmierigen Patina überzogen. Vorsichtig roch er daran und wandte sich angewidert ab. Besser, er warf das Ding weg. Wenn man es bei ihm fand, würde man ihn vielleicht beschuldigen, es gestohlen zu haben.
Er schaltete die Lampe aus, ging in die Küche und trat auf das Pedal des Mülleimers. Der Deckel sprang auf und das Männchen schwebte über Plastikverpackungen und leeren Konservendosen. Eddie zögerte und ließ den Deckel zufallen.
Dann kramte er eine Tupperwarebox aus dem Küchenschrank, legte die Figur hinein und verstaute die Box in der Kommode im Flur. Etwas hinderte ihn daran, das Männchen mit den großen Augen in den Müll zu werfen; ein seltsam unbestimmtes Gefühl, dass er es bereuen würde.
Kurz darauf schob er eine Tiefkühlpizza in den Backofen und wartete, bis sie heiß war. Nachdem er die Hälfte gegessen hatte, verspürte plötzlich keinen Hunger mehr. Er packte die Reste in den Kühlschrank, plünderte seine Biervorräte und döste vor dem Fernseher ein.
Der Alkohol half ihm, den verfluchten Tag zu vergessen; Hartmann, seine Mietrückstände und die Tatsache, dass er dringender denn je einen Job brauchte. Das Gesicht des Mädchens bei der Bushaltestelle verfolgte ihn in seine wirren Träume, und auch das Bild von Goldlockes gepiercter Zunge ließ sich nicht vertreiben. Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken.
Eine Moment lang war er überzeugt, nicht alleine in der Wohnung zu sein, doch offenbar war es der Fernseher gewesen. In dem schwerelosen Zustand zwischen Wachen und Schlafen flimmerte die Meldung von einem grauenvollen Autounfall über den Bildschirm, der sich unweit der Firma IT-Solutions am Rheinufer ereignet hatte. Doch Eddie war bereits wieder eingeschlafen.
- 6 -
Eddie erwachte am nächsten Morgen, ohne sich erinnern zu können, wie er vom Sessel ins Bett gelangt war. Sein Smartphone plärrte hartnäckig Beautiful Day von U2. Er wälzte sich herum und wischte über das Display.
„May“, krächzte er heiser.
„Hier spricht Weidmann. Es … äh … hat sich eine neue Situation ergeben, ich … äh … habe mir Ihre Unterlagen noch einmal angesehen und würde Sie gerne zu einem Gespräch einladen.“
Eddie massierte mit Zeigefinger und Daumen seine Nasenwurzel und versuchte zu verarbeiten, was er hörte.
„Gespräch?“, wiederholte er lahm.
„Was halten Sie von 13:30 Uhr?“
„Heute?“
„Wenn es Ihnen nicht passt, wir …“
„Nein, das ist okay“, fiel Eddie ihm ins Wort. „Um halb zwei dann.“
„Fein. Bis dann.“ Weidmann legte auf.
Eddie richtete sich im Bett auf. Er hatte Kopfschmerzen und auf seiner Zunge schien über Nacht ein Pelz gewachsen zu sein. Was zum Teufel hatte Weidmanns Sinneswandel hervorgerufen?
Eddie warf einen Blick auf den Radiowecker. Es war kurz nach neun. Genug Zeit, um sich in einen halbwegs annehmbaren Zustand zu versetzen. Er trank selten Bier, weil der Alkohol eine kroch verheerende Wirkung auf ihn hatte.
Schließlich schälte er sich aus dem Bett, duschte heiß, rasierte sich und schluckte ein Aspirin. Dann kramte er nach einem frischen Hemd, griff nach dem Schlüsselbund auf der Kommode im Flur und stutzte. Neben dem Schlüssel lag die Knochenfigur.
Er runzelte die Stirn und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Dann fiel ihm ein, dass er den Kerl mit den großen Augen in eine Tupperbox gesteckt und in der Schublade verstaut hatte. War er etwa selbst herausgekrochen? Eddie zog die Lade auf, die leere Box lag noch darin, der Deckel war fest verschlossen. Nachdenklich drehte er die Figur in den Fingern.
Was hatte er in der vergangenen Nacht angestellt? Der Anzahl der leeren Bierflaschen und der Stärke seiner Kopfschmerzen nach zu urteilen war er sturzbetrunken ins Bett gefallen. War er zuvor noch im Korridor gewesen und hatte den Knochenmann aus seinem Gefängnis befreit? Aber warum?
Es gab Tage, an denen er Sachen tat, die er nicht erklären konnte. Die Angewohnheit, andere Menschen mit einer eingebildeten Seifenblase auf Abstand zu halten, war die harmloseste seiner Marotten, die er dem Erleuchteten und dem Mord an seinen 158 Jüngern zu verdanken hatte.
Was ihn beunruhigte, war die Tatsache, dass er sich diesmal an nichts erinnern konnte. Eddie hob den Lederriemen auf und die fingerlange Figur drehte sich um ihre eigene Achse.
„Was fange ich nur mit dir an?“, fragte er.
Als Antwort schien die Figur zu taumeln, als wolle sie ihm etwas mitteilen, beendete die unkontrollierte Drehung und begann, vor und zurück zu pendeln.
„Du willst, dass ich dich mitnehme?“
Ein letztes Pendeln.
„Okay.“
Er streifte sich den Riemen über den Kopf und steckte die Figur wie einen Talisman unter sein Hemd. Dann trat er ins Treppenhaus hinaus und horchte, ob sich Hartmann in der Nähe herumtrieb. Alles blieb ruhig. Rasch verließ er das Haus und überquerte die Straße.
Das Reklameschild auf dem Kiosk blinkte, Goldlocke stand hinter dem Tresen und bediente einen alten Mann, der umständlich seinen Lottoschein abgab. Eddie erinnerte sich an die Rubbellose. Er hatte nicht nachgesehen, ob er einen Treffer gelandet hatte. Wozu auch? Er gewann nie etwas. Er war der Hüter des Unglücks, der Schrecken der Lotterie.
Eddie betrat den Kiosk, studierte die Magazine im Zeitungsständer und wartete. Endlich strich der Alte sein Wechselgeld ein.
Neben Kaffee in Plastikbechern gab es eine kleine Auswahl an belegten Brötchen und Backwaren. Eddie frühstückte öfter im Kiosk als er sich leisten konnte, aber es war die einzige Gelegenheit, längere Zeit in Goldlockes Nähe zu sein. Er bestellte einen Kaffee und ein Croissant und aß an einem der drei winzigen Stehtische.
Das blonde Mädchen saß wieder auf seinem Hocker hinter dem Tresen und las in einem abgegriffenem Buch. Der Schutzumschlag war speckig und eingerissen.
Eddie nippte an seinem Kaffee. Ihre Blicke begegneten sich, Goldlocke lächelte und zeigte ein neues Piercing an der Unterlippe. Die unsichtbare Mauer baute sich auf. Eddie wusste nicht, wie er sie einreißen sollte.
Nachdem er mit seinem Frühstück halb fertig war, wurde ihm klar, dass Goldlocke ihm noch nie so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
„Ist was?“, rutschte ihm heraus.
Er bereute die Frage sofort. Warum nutzte er nicht die Gelegenheit, um mehr über sie zu erfahren? Die Antwort war niederschmetternd. Er hatte das Gefühl, dass die Mauer seine Stimme verschluckte und er vergeblich gegen die unsichtbare Barriere anschrie, bis er heiser war.
Sie klappte das Buch zu und legte es auf den Tresen. Keltische Mythologie stand auf dem Einband. Eddies Herz schlug schneller.
„Woher hast du das?“, fragte sie.
„Was denn?“
„Die Figur. Die hab ich noch nie bei dir gesehen.“
Eddie blickte an sich herab. Der Knochenmann baumelte an seinem Lederriemen über seinem Hemd.
„Das gibt’s doch nicht“, murmelte er.
Goldlocke kam um den Tresen herum auf ihn zu.
„Tu’s nicht!“, schrie eine Stimme in seinem Kopf.
Goldie würde an der Mauer verbrennen oder sich auflösen. Hoffentlich erkannte sie die Gefahr. Er konnte sie nicht warnen, denn dann würde sie ihn für völlig durchgeknallt halten. Doch dann durchbrach sie die Mauer, ohne sich in ein Häuflein Asche zu verwandeln.
„Das ist keltisch“, sagte sie.
Sie beugte sich über die Figur, ihre Locken kitzelten ihn an der Nasenspitze.
„Au!“ Goldlocke schüttelte ihre Hand und begutachtete ihren Daumen.
„Was ist?“
Sie lutschte an ihrem Daumen.
„Der Verschlusch ischt kaputt. Sag schon, woher hast du die Figur?“
„Ich hab sie gefunden.“
Sie nahm den Daumen aus dem Mund, ein Blutstropfen quoll aus der winzigen Wunde.
„So was findet man nicht auf der Straße.“
„Das ist ne lange Geschichte“, sagte er. „Weißt du, was das ist?“
„Nicht genau, nur das es keltisch und alt ist. Ich kann mal meinen Prof fragen. Der kennt sich gut aus, ist so ne Art Druide, glaub ich.“
„Professor?“, fragte Eddie.
„Ich studiere Archäologie. Was machst du denn so?“
„Ich … mach … so Computersachen, IT und Netzwerke.“
„Wär mir zu öde. Ich muss mit den Händen im Dreck wühlen.“
„Und der Kiosk?“, fragte er.
„Mach ich nur zum Geld verdienen. Willst du noch einen Kaffee? Geht aufs Haus.“
„Gerne.“
Er suchte nach weiterem Gesprächsstoff und sagte das Erste, was ihm in den Sinn kam. „Ich hab heute ein Vorstellungsgespräch bei IT-Solutions.“
„Echt? Viel Glück. Lass dich nicht überfahren.“
„Warum sollte ich?“
„Liest du keine Zeitung?“
Sie schob ihm eine Lokalzeitung zu. Eddie überflog die Schlagzeile und den kurzen Artikel darunter. Eine tödliche Kälte kroch seine Wirbelsäule herauf und griff nach seiner Kehle. Zehn Minuten, nachdem Weidmann ihn rausgeworfen hatte, war ein Mann unweit der Firma IT-Solutions zu Tode gekommen.
Ein Lastwagen hatte ihn auf der schneeglatten Fahrbahn zerquetscht
wie ein Schuhabsatz eine Küchenschabe. Er war auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch
gewesen.
- 7 -
Der Personalchef von IT Solutions empfing Eddie mit einem öligen Lächeln, schüttelte ihm überschwänglich die Hand und führte ihn in einen Besprechungsraum mit den Ausmaßen eines Tennisplatzes. Sie nahmen auf zwei unbequemen Stühlen Platz. Weidmann schlug Eddies Bewerbungsmappe auf.
„Ich … äh … habe mir Ihre Unterlagen noch einmal genauer angesehen, und wir sind einvernehmlich zu der Überzeugung gelangt, dass Sie … äh … doch der geeignete Kandidat sind.“
Eddie nickte. Ihm fiel nichts wirklich Eloquentes ein. Computer waren das Einzige, von dem er wirklich etwas verstand und dessen Funktionen er intuitiv und spielerisch erfasste. Verkaufen konnte er sich nicht, also hielt er den Mund, bevor er die unverhoffte Chance versaute.
„Wir möchten Sie gerne einstellen“, fuhr Weidmann fort. „Wann können Sie anfangen?“
„Jederzeit.“
„Gut. Dann … äh … am besten sofort. Es gibt da ein … äh … ernstes Problem mit unserem internen Netzwerk, das uns Kopfzerbrechen bereitet.“ Er klappte die Mappe zu und stand auf.
Eddie nahm all seinen Mut zusammen und holte tief Luft. „Wir haben noch nicht vom Geld gesprochen.“
„Ja, richtig.“
Weidmann nannte ihm ein monatliches Gehalt, das nicht üppig, aber angemessen war. Eddie wollte zustimmen, als er spürte, wie sich der Knochenmann unter seinem Hemd bewegte. Wahrscheinlich war er irgendwie verrutscht. Aber hatte er nicht die ganze Zeit stocksteif am Tisch gesessen, die Ellenbogen auf der Tischplatte und die Finger verschränkt, weil er nicht wusste, was er mit ihnen anfangen sollte?
Intuitiv nannte er eine Summe, die ein Drittel höher lag als Weidmanns Angebot. „Und ich kümmere mich umgehend um Ihr kleines Problem.“ Er hatte keine Ahnung, ob er es lösen konnte. Welcher Teufel ritt ihn? Weidmann würde ihn auslachen und rauswerfen.
Weidmann zog stattdessen ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es kühl im Raum war.
„Ich habe allen anderen Bewerbern abgesagt, und ich kann sonst niemanden bekommen … es tut mir leid, dass ich Sie gestern so … angefahren habe. Ich bin überzeugt, dass wir eine Einigung erzielen können. Geben Sie mir eine Stunde Zeit, die Sache mit der Geschäftsleitung zu klären.“
Das lief ja besser, als er sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte.
„Lass dich nicht überfahren“, hatte Goldlocke gesagt.
„Tun Sie das. Ich kümmere mich inzwischen um Ihr Netzwerkproblem, sagte Eddie. „Eine Frage hätte ich noch …“
„Ja?“
„Was ist mit dem Typ, dem sie den Job versprochen hatten? Stimmt es, dass er gestern tödlich verunglückte, als er das Gebäude verlassen hat?“
„Ein tragischer Unfall, in der Tat“, antwortete Weidmann. „Sehen Sie es mal so: Hätten wir uns gestern für Sie entschieden, dann wären Sie jetzt tot.“
Der Personalchef schob seinen Stuhl zurück, das Gespräch war beendet. Sie verließen den Konferenzraum.
Eddie tastete nach der Figur unter seinem Hemd. „Da habe ich ja noch mal Glück gehabt“, murmelte er.
Weidmann zeigte ihm den Serverraum. Ein Mitarbeiter schilderte ihm das Problem. Eddie brauchte eine Stunde, um es zu lösen, und fragte sich, warum IT-Solutions solche Idioten beschäftigte.
Drei Stunden später verabschiedete er sich von einem beeindruckten Personalchef. Als er das Bürogebäude in der Nähe des Rheinufers verließ, brach die Sonne durch Wolken und zauberte funkelnde Reflexe auf die nassen Straßen. Er beschloss, am Fluss entlang zum Deutschen Eck zu laufen und von dort mit dem Bus nach Hause zu fahren.
Der VW-Bully stand noch immer in dem Waldstück im Westerwald. Aber nun verdiente er genug, um ihn abschleppen und verschrotten zu lassen, außerdem konnte er endlich die fälligen drei Monatsmieten überweisen.
Zwei Nilgänse querten im Tiefflug den Uferweg und flogen in einem weiten Bogen über den Fluss. Alles war nun möglich … möglich durch eine seltsame Aneinanderreihung von Zufällen. Sehr sonderbaren Zufällen.
Eddie schirmte seine Augen mit der Hand ab und verfolgte den Flug der Gänse, die geradewegs in die Sonne zu fliegen schienen. Aus dem gleißenden Licht tauchte eine schmale Gestalt auf, eine junge Frau in einem dunklen Wintermantel und einer blauen Strickmütze.
Eddie konnte es nicht fassen. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben Glück; so viel davon, dass er gar nicht mehr wusste, wohin damit.
Sie war es – die Frau, die er an der Haltestelle getroffen hatte. Gehörte sie auch zu der Kette von Ereignissen, die alles veränderten?
Sie lief mit gesenktem Kopf den Uferweg entlang, den Blick starr auf ihre Fußspitzen gerichtet. Eddie wartete, bis sie sich auf einen Meter genähert hatte und bezwang sein wild schlagendes Herz.
„Hi“, sagte er dann.
Sie sah überrascht auf. „Zweihundertsechzehn“, sagte sie leise. Dann ging sie weiter und beschleunigte ihre Schritte.
Eddie beeilte sich, sie einzuholen.
„Wir sind uns gestern begegnet“, sagte er atemlos, „an der Bushaltestelle. Weißt du noch?“
Sie antwortete nicht.
„Erinnerst du dich an mich?“
Sie schüttelte stumm den Kopf.
„Aber ich hab das Gefühl, wir kennen uns.“
„Zweihundertfünfunddreißig“, flüsterte sie.
„Das ist nicht schlimm“, sagte Eddie.
Sie blieb stehen. „Was?“
„Du zählst deine Schritte. Ich baue Mauern, die keiner sieht.“
„Mauern, die keiner sieht“, wiederholte sie.
„Ich war da, als sie starben“, sagte er.
„Du warst das kleine Mädchen, das sich unter dem Altar versteckt hatte.“
Sie blickte ihn an. „Du bist Eddie.“
Er nickte. „Ich … hab verlernt, wie man die Mauer einreißt.“
„Und du glaubst, ich wüsste, wie man das macht?“
„Weißt du’s?“
„Nein.“
Sie lief rasch weiter, die Hände fest in den Manteltaschen vergraben. Er lief neben ihr her.
„Zweihundertsechsundsiebzig“, flüsterte sie.
„Warum machst du das?“
„Weil es hilft. Ich kann nicht gleichzeitig zählen und denken. Denken ist schlimm.“
„Ich weiß, was du meinst. Es sind die Bilder. Sie kommen immer wieder.“
Sie verlangsamte ihre Schritte und blieb stehen. „Siehst du den alten Mann dort auf der Bank? Und den blutenden Jungen im Torweg?“, fragte sie.
„Wo denn? Da ist niemand.“
„Nein, das ist keiner. Aber ich kann sie trotzdem sehen. Glaubst du immer noch, ich könnte dir helfen?“
„Ja. Und ich kann dir helfen.“
Sie schüttelte den Kopf. Die widerspenstige Haarsträhne löste sich. Sie strich sie hinter das Ohr zurück.
Eddie nahm all seinen Mut zusammen. Heute war ein besonderer Tag, an dem alles gelingen könnte.
„Ich würde dich gerne wiedersehen“, sagte er.
„Wozu?“
„Wenn du da bist, ist die Mauer nicht so hoch. Vielleicht könnten wir sie zusammen einreißen. Wir könnten einen Kaffee trinken. Morgen Nachmittag. Wenn du wieder hierher kommst … ich könnte dich auch abholen.“
„Nein.“
Sein Angebot schien sie zu erschrecken. Sie lief rasch weiter.
„Wie heißt du?“, fragte er.
„Jule“, sagte sie zögernd.
„Wirst du kommen? Morgen um die gleiche Zeit? Ich werde hier sein und auf dich warten.“
„Ich weiß nicht.“
Ein Bus näherte sich der Haltestelle, die sie fast
erreicht hatten. Jule stieg ein. Diesmal sah sie nicht zurück.
- 8 -
Es war bereits dunkel, als Eddie in der Nähe des Kiosks aus dem Bus stieg. Im Eingangsbereich des Mietshauses brannte Licht, Hartmann stand auf einer Leiter und wechselte eine Glühbirne aus. Er trug eine grüne Latzhose und klobige Arbeitsschuhe und schimpfte leise vor sich hin. Eddie versuchte, sich an ihm vorbei die Treppe hinaufzuschleichen, aber der Hausverwalter hatte ihn bereits entdeckt. Er stieg die Sprossen hinab und versperrte ihm den Weg.
In vier Tagen ist der Erste“, sagte er. „Entweder Sie zahlen pünktlich oder ich veranlasse die Kündigung.“
„Sie bekommen das Geld. Alles. Morgen.“
Hartmann hob überrascht die buschigen Brauen. „Alle drei Montagsmieten? Haben Sie im Lotto gewonnen?“
„Nein, ich habe einen neuen Job, der gut bezahlt wird.“
Eddie drängte sich an dem verblüfften Hausverwalter vorbei und eilte die Stufen hinauf in den dritten Stock. Die Winterjacke flog auf den Garderobenhaken. Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm sich ein Bier, obwohl er wusste, dass er das Zeug nicht vertrug.
Mann, was für ein Tag! Erst der Anruf von Weidmann, dann die Begegnung mit Jule. Er musste sie unbedingt wiedersehen. Sie war das fehlende Puzzleteil, um mit der Vergangenheit abschließen zu können. Eddie war in Hochstimmung. Seine Haut begann zu prickeln, wenn er an sie dachte.
Auch wenn Jule sich noch so bemühte, ihr anziehendes Äußeres zu verbergen, er sah ihre Schönheit; eine Schönheit, die sie versteckte, weil sie die Menschen fürchtete. Er würde ihr diese Angst nehmen, und sie würde die unsichtbare Mauer einreißen, die ihn umgab. Mann, Mann, das wurde alles immer besser.
Eddie nippte an seinem Bier und träumte von einem neuen Leben. Er hatte geglaubt, Goldlocke wäre die Richtige, aber sie war nur ein Dreier im Lotto – ziemlich gut, aber nicht perfekt. Jule war der Hauptgewinn, sechs Richtige mit Zusatzzahl sozusagen. Er musste sie wiedersehen. Sie würde kommen, er war ganz sicher. Endlich hatte er eine verdammte Glückssträhne erwischt, nichts konnte mehr schiefgehen.
Sein Blick fiel auf die Rubbellose, die er am Abend zuvor im Kiosk gekauft hatte. Er dachte an den merkwürdigen Zufall, der seinem Mitbewerber den Tod und ihm einen Job gebracht hatte. Eddie griff unter sein Hemd, holte die kleine Figur hervor und streifte den Lederriemen über den Kopf.
„Du bist wohl so was wie ein Glücksbringer, wie?“
Doch wenn es so war, hatte ein anderer Mensch einen schrecklichen Preis für sein Glück zahlen müssen. Die Vorstellung, die zerkratzte alte Figur besäße die Macht über Leben und Tod, über Glück und Unglück, beunruhigte ihn. Aber warum sollte er nicht auch mal ein bisschen Glück haben?
Er ließ den Knochenmann an seinem Riemen hin und her
pendeln und legte ihn dann neben die Lose. Dann begann er, die Flächen mit den
Glückszahlen freizurubbeln.
Fünfzehn Minuten später saß er noch immer in seinem Sessel und sah abwechselnd auf die Figur und die Lose. Eddie hatte viermal den Jackpot geknackt.
Er stand auf und schob die Gardine zur Seite. Das Reklameschild über dem Kiosk war ausgeschaltet, Goldlocke hatte längst Feierabend gemacht. Eddie sah auf seine Armbanduhr, es war kurz nach neun. Er ging zum Tisch zurück und hielt stumme Zwiesprache mit dem Knochenmann. Ein kaltes Prickeln kroch seine Wirbelsäule hinauf, setzte sich in seiner Kehle fest und drückte sie zusammen.
Es dauerte lange, bis er an diesem Abend einschlief. In seinen Träumen floh er vor lebensgroßen Schnitzfiguren, die ihn mit klappernden Knochenbeinen verfolgten. Sie lockten ihn mit Geschenken, die ihn zu einem reichen Mann machen würden und ihm gleichzeitig den Tod brachten.
Noch vor Sonnenaufgang wurde er vom Jaulen eines Martinshorns geweckt. Durch das Schlafzimmerfenster floss ein rötlicher Lichtschein, der wie kaltes Feuer an der Zimmerdecke flackerte.
Von einer bösen Vorahnung erfüllt, schlug er die Bettdecke zurück und öffnete das Fenster. Zwei Feuerwehrwagen und ein Notarztwagen standen unter dem Fenster. Einsatzkräfte sperrten die Straße ab, auf dem Gehweg versammelte sich eine gaffende Menschenmenge. Er erkannte Hartmann, der selbst jetzt seine grüne Arbeitshose trug. Der Kiosk auf der anderen Straßenseite brannte wie eine Pechfackel.
Eddie schlüpfte in Jeans und Jacke und lief auf die Straße hinunter. Die Feuerwehr hatte den Bereich um den Kiosk abgesperrt. Männer brüllten Kommandos und bemühten sich, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Straße und Gehweg verwandelten sich durch das Löschwasser in eine eisige Rutschbahn.
Eddie fror und redete sich ein, dass in den Nachtstunden niemand in dem einstöckigen Laden aus Fertigbauteilen gewesen sein konnte. Trotzdem flüsterte ihm eine Stimme zu, dass Goldlocke tot war. Er dachte an die Lose auf dem Küchentisch, und an die seltsamen Umstände, durch die er den Job bei IT-Solutions bekommen hatte.
Etwas Entsetzliches lauerte unter der Fassade seines plötzlichen Erfolgs, etwas, das er noch nicht fassen oder benennen konnte, von dem er aber wusste, dass es existierte; und dass es abgrundtief böse war.
Die Feuerwehr dämmte die Flammen ein, die Menge verlief sich. Eine in einen dicken Brandschutzanzug gehüllte Gestalt stapfte auf den rauchenden Kiosk zu und kletterte durch die Eingangstür. Die Glasscheibe war in der Hitze zerplatzt, der Rahmen verschmort und verbogen.
Eddie schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und lief über die Straße. Jemand zog an seinem Ärmel und versuchte, ihn aufzuhalten. Der Feuerwehrmann kehrte aus dem Inneren des Gebäudes zurück und schob das Visier seines Helms hoch.
„Im Hinterzimmer liegt eine Leiche“, sagte er.
Goldlocke war tot.
Eddie kehrte in seine Wohnung zurück. Im Treppenhaus begegnete er Hartmann, der sich ausnahmsweise eine Bemerkung über Zacken in der Statistik verkniff.
Auf dem Küchentisch lagen noch immer die Lose und der Knochenmann. Noch vor wenigen Stunden hatte er ihn für einen Glücksbringer gehalten, aber was bedeutete ein Lotteriegewinn, wenn er ein Menschenleben kostete? Nachdenklich drehte er die Figur in den Fingern. Dieses alberne Ding sollte für Goldlockes Tod verantwortlich sein? Oft hatte sie ihn aufgezogen, wenn er Magazine wie Mystery oder Geisterjäger kaufte.
„Bevor du etwas Übernatürliches als Lösung akzeptierst, musst du zunächst alle anderen Erklärungen ausschließen können“, hatte sie ihn belehrt.
Eddie wusste, dass er den Aberglauben wie ein Amulett über seiner Seele trug, doch nicht um das Böse abzuwehren, sondern um seine eigenen Erinnerungen zu verdrängen. Es war leichter, geheimnisvolle Mächte für sein Unglück verantwortlich zu machen als sich der Wahrheit zu stellen.
Er wollte nicht, dass die verdammte Figur die Schuld an Goldlockes Tod trug, denn das würde bedeuten, dass auch er mitschuldig war. Aber er brauchte jemanden, den er hassen konnte für das, was geschehen war. Er nahm die Figur und warf sie in den Mülleimer.
Eine Stunde später warf er den Abfallbeutel in den Container im Hof. Dann stieg er in den Bus Richtung Altstadt und starrte gedankenverloren auf die erwachende Stadt, die vor den Fenstern an ihm vorbeizog. Seit er Jule kennengelernt hatte, wusste er, dass er Goldlocke nicht geliebt hatte. Doch obwohl sie kaum Worte gewechselt hatten, war sie eine gute Freundin gewesen. Sie hatte ihm wenigstens zugehört. Und nun war sie tot.
Weidmann grüßte ihn freundlich. Eddie vertiefte sich in ein Netzwerkproblem und arbeitete konzentriert bis zur Mittagspause. In einem Lottoshop löste er die Lose ein. Der Gewinn betrug 100.000 Euro. Die Angestellte erklärte ihm aufgeregt, dass eine so große Summe nicht bar ausgezahlt wurde.
Er gab seine Bankverbindung an und fühlte sich schuldig dabei. Sollte er das Geld annehmen oder nicht? Bedeutete sein Glück für einen anderen Menschen Unglück? Oder erzeugte er das Pech, das an seinen Sohlen klebte, unbewusst selbst, weil er diesen abergläubischen Mist für real hielt? Vielleicht war er es Goldlocke schuldig, endlich erwachsen zu werden.
Gegen 16:00 Uhr verließ er die Firma, nahm sich ein Taxi und fuhr zu dem Autohändler in Kesselheim. Dort hielt er nach dem schwarzen Mondeo Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken. Da er nun mehr als genug Geld besaß, kaufte er einen gebrauchten BMW Z3 und überredete den Händler, ihm einen Satz rote Nummernschilder zu überlassen.
Dann fuhr er mit dem Sportwagen zum Deutschen Eck, stellte ihn in der Nähe ab und drückte sich auf dem Uferweg herum. Nach den arbeitsreichen Stunden in dem miefigen Serverraum genoss er die frische, kalte Luft. Und natürlich hoffte er, Jule zu treffen. Wenn er sich nicht irrte, folgte sie - ebenso wie er es tat - ihren eigenen Ritualen.
Seine Hoffnung erfüllte sich, kurz darauf entdeckte er ihren dunklen Wintermantel und die blaue Strickmütze.
„Hi“, sagte er.
Sie sah kurz auf, senkte ihren Blick sofort wieder und ging weiter. Eddie lief neben ihr her. Seine Beine setzten sich von selbst in Bewegung, er hatte das sichere Gefühl, nur noch diese eine Chance zu bekommen. Und er wusste, dass er dieses Mädchen irgendwie rumkriegen musste, mit ihm auszugehen.
„Musst du nicht in die andere Richtung?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
„Ich hab auf dich gewartet“, antwortete er.
„Wozu?“
„Erinnerst du dich an gestern?“
„Nein.“ Sie beschleunigte ihre Schritte.
„Doch, das tust du bestimmt. Wir wollten einen Kaffee trinken gehen.“
„Ich muss zum Bus.“
„Ich kann dich nach Hause fahren, ich hab mir einen neuen Wagen gekauft.“ Er klimperte mit dem Schlüsselbund.
„Warum?“, fragte sie.
„Warum was?“
„Warum lässt du mich nicht in Ruhe?“
„Weil du einsam bist. Ich bin es auch.“
Sie blieb stehen.
„Und du glaubst, du könntest das ändern?“
„Ja. Wir können es ändern.“
Zehn Minuten später saßen sie in einem kleinen Café mit Blick auf den Rhein. Eddie platzte vor Glück und Stolz, Jule überzeugt zu haben.
Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und die blaue
Strickmütze. Ihr Haar war dunkel und voll und umrahmte ein schmales Gesicht.
Allmählich überwanden sie das anfänglich peinliche Schweigen und begannen zu
reden. Schnell wurde Eddie klar, dass sie mehr als die Schrecken der
Vergangenheit verband. Jule hörte auf, die Muster auf der Tischdecke zu zählen,
und die unsichtbare Mauer um Eddie bröckelte Stein um Stein.
- 9 -
Eddie stellte den Z3 vor dem Mietshaus in Koblenz-Güls ab. Noch immer schwebte Jules schwacher Duft im Wagen. Er hatte sie nach Hause gefahren und würde sie wieder sehen. Eddie wollte die Welt umarmen.
Die verkohlte Ruine des Kiosks auf der anderen Straßenseite riss ihn aus seinen Träumereien und schleuderte ihn brutal in die Wirklichkeit zurück. Goldlocke war tot. Der Typ, der ihm den Job weggeschnappt hatte, war tot.
Okay, Unglücke geschahen. Daran war nichts Gespenstisches. Es war ein unheilvolles Zusammentreffen, mehr nicht. Er fühlte sich zum ersten Mal seit vielen Jahren glücklich. Das lag nicht an einer merkwürdigen kleinen Figur, die er eingesteckt hatte, sondern daran, dass er sein Leben in die Hand genommen hatte.
Eddie betrat das Haus und begegnete auf der Treppe Hartmann. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Hausverwalter im Treppenhaus wohnte. Der hagere kleine Mann mit dem Filzhut baute sich wichtig vor ihm auf.
„Sie bekommen Ihre Miete“, sagte Eddie schnell.
„Davon gehe ich aus. Sie wissen, dass Sie sonst rausfliegen.“
„Was wollen Sie dann?“
Hartmann stieß mit dem Fuß gegen einen Zinkeimer. „Macht es Ihnen Spaß, Ihren Müll im Treppenhaus zu verteilen?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“
Er zog etwas aus seiner Kitteltasche und hielt es hoch. An seinem Lederriemen baumelte der Knochenmann vor Eddies Nase.
„Das habe ich vor Ihrer Wohnungstür gefunden. Und es gehört Ihnen, habe ich recht? Die Dreckspur zieht sich von dort bis zum Müllcontainer.“
Eddie starrte entsetzt auf die Figur, stolperte zurück und landete mit dem Hintern auf einer Treppenstufe.
Hartmann warf ihm die Figur zu. Sie verfing sich an einem Knopf von Eddies Jackenärmel und blieb an ihm kleben wie ein Fluch.
„Passen Sie auf Ihren Kram auf. Ich habe zum letzten Mal hinter Ihnen hergeputzt. Beim nächsten Mal melde ich Sie der Eigentümergesellschaft.“
Eddie rappelte sich auf, stieß Hartmann zur Seite und rannte die Stufen zu seiner Wohnung hinauf, als wären alle Teufel der Hölle hinter ihm her. Sein Herz trommelte gegen seine Rippen wie eine aus dem Takt geratene Standuhr.
Das war unmöglich! Er hatte das Ding in dem Abfalleimer geworfen und den Sack danach im Container im Hof entsorgt. Die Figur sollte längst in der Müllverbrennungsanlage gelandet sein!
Der Job und der Typ, der vor einen Laster gelaufen war … der Losgewinn und Goldlockes Tod … Jule … was kam als Nächstes? Ihm wurde eiskalt. Er wusste plötzlich, dass etwas geschehen würde. Etwas Entsetzliches.
Hektisch befreite er sich von der Figur und warf sie auf die Kommode im Flur.
„Das ist keltisch“, hatte Goldlocke gesagt. „Ich frag mal meinen Professor.“
Es war kurz nach 18:00 Uhr und damit unwahrscheinlich, dass er in der Universität noch jemanden antraf, der ihm weiterhelfen konnte, aber er musste es wenigstens versuchen. Eddie schnappte sich die Figur und verließ seine Wohnung. Ihm war übel, er zitterte und hatte das Gefühl, dass Wasser statt Blut durch seine Adern rann.
Erst, als er den BMW auf dem Parkplatz vor dem Universitätsgelände in Koblenz-Metternich abstellte, wurde ihm klar, dass er schreckliche Angst hatte, Angst um Jule.
Er hatte sie gewonnen und geglaubt, dass er es seinem neu gewonnenen Selbstvertrauen zu verdanken hatte, dass er sie rumgekriegt hatte. Aber das stimmte nicht. Der verdammte Knochenmann hatte es für ihn erledigt. Und er würde einen furchtbaren Preis dafür verlangen.
Am Eingang zum Campusgelände traf er eine Gruppe Studenten. Sie hatten bereits von dem furchtbaren Unglück erfahren. Eddie gab sich als Freund von Goldlocke aus und er erfuhr endlich ihren Namen. Er fragte sich zu dem Professor durch, von dem sie gesprochen hatte, und traf ihn vor seinem Büro an. Er war gerade dabei, die Universität zu verlassen.
„Sandra Grunert schickt mich“, sagte Eddie atemlos.
Der Professor musterte ihn misstrauisch. Georg Helkamp war ein hochgewachsener Mann mit silbergrauem Haar, scharf geschnittenem Gesicht und einer Furcht einflößenden Geiernase.
„Das dürfte wohl kaum der Wahrheit entsprechen, junger Mann.“
„Ja … nein … ich meine, sie erwähnte, dass sie hier studiert. Sandra wollte, dass ich Ihnen etwas zeige; etwas sehr Wichtige. Bitte, helfen Sie mir.“
Eddie zog die Figur aus der Jackentasche und öffnete die Faust.
Helkamp blickte auf den Knochenmann. „Woher haben Sie das?“
„Das ist eine lange Geschichte. Sandra glaubte, dass die Figur keltischen Ursprungs ist. Können Sie mir etwas darüber sagen? Hier, Sie können Sie haben. Ich schenke sie Ihnen.“
Er streckte die Hand mit der Figur aus, aber der Professor wich erschrocken vor ihm zurück und ließ seine Aktenmappe fallen.
„Behalten Sie das Ding.“
„Aber ich will es loswerden.“
Helkamp wandte sich um, hob fahrig seine Tasche auf und trabte auf seinen Stelzenbeinen den Korridor entlang. Eddie bemühte sich, ihn einzuholen.
„Warten Sie doch. Sie wissen, was das ist, oder?“
„Eine nachgemachte Antiquität, ein Schwindel, wertloser Trödel.“
„Sandra war überzeugt davon, dass es echt ist. Bitte, Sie müssen mir helfen. Sonst wird jemand sterben, der mir sehr nahesteht.“
Helkamp blieb stehen und drehte sich langsam um.
„Wie kommen Sie denn auf diesen verrückten Gedanken?“
Eddie erzählte ihm, wie er zu der Figur gekommen war, von dem Trick, mit dem der Autohändler sie ihm angedreht hatte, von dem Mann, der überfahren worden war, von Goldlocke, dem Lottogewinn und der seltsamen Rückkehr der Figur.
„Das ist doch kompletter Unsinn“, schimpfte Helkamp. „Dies ist eine Universität. Wir beschäftigen uns mit Fakten, nicht mit Aberglauben. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, junger Mann: Sie sollten einen guten Psychiater aufsuchen.“
„Ich weiß, dass jemand sterben wird, wenn ich nichts unternehme. Wenn Sie mir nicht helfen, machen Sie sich mitschuldig an seinem Tod. Was ist das für ein Ding?“
Helkamp blickte sich um, als befürchtete er, jemand könne ihn hören.
„Das ist ein Talisman“, sagte er leise.
„Wie kann ich ihn loswerden?“
„Überhaupt nicht. So heißt es jedenfalls.“
„Aber …“
„Sie haben ihn weggeworfen, aber am nächsten Tag war er wieder da. Nicht wahr, das waren Ihre Worte?“
„Ja.“
„Sie können sich nur von ihm befreien, wenn ein anderer ihn freiwillig annimmt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Er hat Sie ausgesucht. Sie können ihn weder verkaufen oder verschenken.“
Eddie starrte den Professor an, als hätte er den Verstand verloren.
„Das behauptet zumindest eine Legende“, sagte Helkamp. „Zeitgenossen mit gesundem Menschenverstand lassen sich davon natürlich nicht beeinflussen. Wenn jemand allerdings so abergläubig ist wie Sie …“
„Ich verstehe nicht.“
„Haben Sie je von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen gehört?“
„Aber ich wusste doch gar nichts über das Ding. Wenn Sie denken, dass sei alles Unsinn, dann nehmen Sie ihn. Stellen Sie ihn von mir aus in einem Glaskasten aus.“
Helkamp blickte sich nervös um und schüttelte den Kopf.
„Ich muss jetzt gehen.“
„Sandra sagte, sie wären so eine Art Druide.“
„Ich bin Professor für Archäologie und Anthropologie, mein Spezialgebiet ist keltische Mythologie.“
„Zwei Menschen sind gestorben, seit ich diesen verdammten Talisman besitze. Ich will nicht, dass noch jemand stirbt.“
Helkamp klemmte seine Aktenmappe unter die Achsel und nahm einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Tweedsakkos. Er schrieb etwas auf, riss einen Zettel ab und reichte ihn Eddie.
„Dort wird man Ihnen eher Glauben schenken … sofern das möglich ist. Gehen Sie jetzt und belästigen Sie mich nie wieder mit dieser Angelegenheit.“
Er drehte sich um und eilte in die Dunkelheit hinaus.
Eddie blickte auf den Zettel. Helkamp hatte eine Adresse
in Keltenbach notiert, einem kleinen Ort, den er vom Hörensagen kannte. Er lag
tief im Herzen des Westerwalds. Dort, wo die Uhren an manchen Plätzen so
langsam gingen, dass noch Dinge geschahen, die man mit gesundem
Menschenverstand nicht erklären konnte.
- 10 -
Die Nacht war pechschwarz und schien das Licht der Autoscheinwerfer aufzusaugen. Ein stürmischer Wind trieb mit Schneeflocken vermischten Regen vor sich her. Eddie starrte angestrengt in die Dunkelheit. Die mit Asphaltflicken und Schlaglöchern gespickte Durchgangsstraße teilte Keltenbach in zwei ungleiche Hälften.
Er steuerte den Z3 durch die engen Gassen und stieß schließlich auf ein verwittertes Straßenschild. Am Ende einer Schotterpiste stand die Nr. 15, ein niedriges Fachwerkhaus mit vom Alter geschwärzten Balken, winzigen Fenstern und einem Dach, dass fast bis zum Boden reichte.
Es stand abseits der anderen Häuser und wurde von einer Hecke aus immergrünen Lorbeersträuchern vom Ortskern getrennt.
Eddie stellte den Wagen ab, stieg aus und schob das quietschende Gartentor auf. Eine Klingel oder ein Namensschild gab es nicht, aber die Adresse stimmte mit Helkamps Angaben überein. Eddie benutzte den altertümlichen Klopfer an der Tür. Im Inneren des Hauses bellte ein Hund.
Nach einer Weile flammte Lichtschein hinter den Butzenglasscheiben auf, die Tür wurde entriegelt und das faltige Gesicht eines alten Mannes tauchte in dem Spalt auf.
„Was wollen Sie?“
„Ich brauche Ihre Hilfe. Professor Helkamp schickt mich.“
Der Alte kniff die Augen zusammen und verzog die Lippen zu einer Grimasse. „Ich kriege keinen Besuch. Und einen Professor kenn ich auch nicht.“
Er schob die Tür zu, aber Eddie stellte den Fuß in den Türspalt.
„Sandra Grunert ist tot“, sagte er.
„Hab ich in der Zeitung gelesen“, sagte der Alte. „Kann Sie auch nicht wieder lebendig machen.“
„Bitte. Sie müssen mir helfen.“
„Kann ich nicht. Nimm Sie den Fuß weg, oder ich lass den Hund los.“
Eddie zog den Talisman aus der Jackentasche. Er baumelte an seinem Lederriemen vor der Boxernase des alten Mannes. Der riss die Augen auf und zuckte erschrocken zurück.
„Nimm das weg!“
Vorsichtig drückte Eddie die Tür auf. Hinter dem Alten tauchte ein Schatten auf, ein warnendes Knurren erklang. Ein bulliger Rottweiler gesellte sich zu dem alten Mann.
„Sagen Sie mir, wie ich das Ding loswerden kann“, sagte Eddie.
„Gar nicht.“
„Aber es muss einen Weg geben. Sonst werden noch mehr Menschen sterben.“
„Leute krepieren andauernd.“
„Wissen Sie, wie es ist, wenn man jemanden so sehr liebt, dass man ohne ihn nicht leben will?“, fragte Eddie.
Der Alte seufzte. „Du hast dir großen Ärger eingehandelt, Junge … verflucht großen Ärger.“
„Bitte helfen Sie mir.“
„Ich kann dir nur sagen, was du tun musst, alles andere liegt bei dir.“
Widerstrebend ließ der Mann ihn ein und beruhigte den Hund. Eddie bückte sich unter dem niedrigen Türstock hindurch und folgte dem Alten in ein kleines Wohnzimmer, das von einem gemauerten Kamin beherrscht wurde. Der pechschwarze Rottweiler ließ ihn nicht aus den Augen und legte sich vor wachsam auf einen Sisalteppich.
Der Alte ließ sich in einen abgewetzten Sessel fallen, ohne Eddie Platz anzubieten. Er hätte ohnehin nicht gewusst, wo er sich hätte setzen sollen. Das Kaminfeuer malte flackernde Schatten an die rau verputzten Wände. Ein Band aus eckigen Schriftzeichen zog sich an ihnen entlang, sie glichen den Zeichen, mit denen der Talisman bedeckt war.
„Woher hast du ihn?“, fragte der Alte.
„Sagen wir, er ist mir in die Hand gefallen“, antwortete Eddie.
„Das macht er meistens.“
„Wer?“
„Dyllain.“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.“
Der Alte griff nach einer Packung filterloser Zigaretten und zündete sich eine an.
„Glaub ich dir gern. Das ist nicht nur ein Talisman, es ist ein keltischer Dämon, und zwar ein verdammt unangenehmer.“
Eddie steckte die Figur ein. „Aber das ist doch purer Aberglaube. Dämonen existieren nicht. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie …“
„Gibt’s nicht? Ach nee?“ Er beugte sich vor. „Warum wirst du ihn dann nicht los?“
„Weil ich … weil ich …“
„Weil du keine Ahnung hast, was du dir eingebrockt hast. Aber es spielt keine Rolle, ob du daran glaubst oder nicht.“
„Also gut. Was muss ich tun?“
Der Alte sog an seiner Zigarette, lehnte den Kopf an die Nackenstütze des Ohrensessels und blies einen Rauchkringel in die Luft.
„Du musst jemanden finden, der ihn haben will und ihn freiwillig nimmt. Hast du ja auch gemacht, oder?“
Eddie erinnerte sich an den Moment vor zwei Tagen, als er die Gastwirtschaft in dem kleinen Dorf betreten hatte, an die argwöhnischen und misstrauischen Gesichter, an die ungewöhnliche Bereitschaft des Autohändlers, ihm zu helfen. Sie hatten ihn reingelegt.
„Ich muss ihn also verschenken?“, sagte er. Seine Kehle war plötzlich staubtrocken.
„Verschenken geht nicht. Das wird er dir übelnehmen, weil er verflixt eifersüchtig ist. Er wird zu dir zurückkommen und einen Preis für deinen Verrat verlangen. Jemand muss ihn haben wollen. Manche behaupten, er sucht sich seinen Besitzer aus. Warst eben so blöd, ihn dir zu schnappen.“
„Eifersüchtig?“, sagte Eddie.
„Der Talisman erfüllt dir deine Wünsche, sogar welche, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie hast. Aber für jeden Wunsch verlangt er etwas, weil er ein egoistischer Mistkerl ist. Je größer die Geschenke, die er dir macht, desto schlimmer ist das, was er dir nimmt.“
„Aber warum?“
„Weiß ich doch nicht.“
„Es … sind schon zwei Menschen gestorben.“
Der Alte nickte. „Erst sind es Leute, die du flüchtig kennst, oder die dir im Weg stehen, dann Freunde, Verwandte … und schließlich holt er den, den du liebst. Aber du bekommst etwas dafür.“ Er kicherte leise.
Eddies Gedanken überschlugen sich. Er hatte weder Familie noch Freunde. Aber er hatte … Jule!
„Wie kann ich verhindern, dass das geschieht?“
„Hab ich doch gesagt. Jemand muss ihn dir abnehmen. Am besten suchst du dir einen, der todkrank ist. Oder einen, der von ner Brücke springen will. Dann wär die Sache ein für alle Mal erledigt.“
„Sie meinen, jemand muss den Talisman im Augenblick seines Todes an sich nehmen?“
„Wenn du einen findest, der so dumm ist – ja. Dyllain braucht einen Besitzer, um in dieser Welt bleiben zu können. Wenn er keinen findet, kann er keinen Schaden mehr anrichten.“
Der Kerl von der Tankstelle. Er musste das Ding zurücknehmen! Eddie wandte sich zum Gehen.
„Danke.“
„Mach‘s gut. Und denk dran: Verschenken geht nicht. Das
nimmt er dir übel.“
Kalter Regen tropfte in den Kragen seiner Jacke. Eddie
konnte sich nicht erinnern, das Haus verlassen zu haben. Er musste so schnell
wie möglich zu Jule. Und wenn er sie gefunden hatte, durfte er sie nicht mehr
aus den Augen lassen.
© by Volker Dützer
Die Fortsetzung der Kurzgeschichte folgt am 22. August 2024 im „The Black Stone Magazine # 9“
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