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Sonntag, 21. Juli 2024

The Black Stone Magazine # 7

The Black Stone Magazine # 7 

Der Talisman - Teil 1

Vorwort

Ich freue mich an dieser Stelle mit „Der Talisman“ eine dreiteilige Horror-Kurzgeschichte des Autors Volker Dützer präsentieren zu können, mit dem ich Anfang Juli ein Interview geführt habe...

...und wünsche allen Besuchern des „The Black Stone Magazines“ viel Spaß beim Lesen des ersten Teils...

Ingo Löchel, 16. Juli 2024

 

Über die Kurzgeschichte „Der Talisman“

Unheimliche Geschichten haben mich schon immer fasziniert. Meinen ersten Kontakt mit dem Genre hatte ich während der Schulzeit. Beim Durchstöbern der kleinen Bibliothek des Gymnasiums, das ich besuchte, stieß ich auf Anthologien mit Horrorgeschichten, die ich begeistert verschlang.

Leider waren die Bücher sehr begehrt und meistens ausgeliehen, so dass ich ständig auf der Jagd nach ihnen war. Die Namen der Autoren haben ich vergessen, aber der Nervenkitzel beim Lesen und die Faszination für solche Geschichten ließen mich nie wieder los.

In späteren Jahren wurde ich ein großer Fan von Stephen King und Dean Koontz. In der Rückschau finde ich Kings Bücher heute oft zu langatmig, und das Ende meistens enttäuschend. Koontz habe ich es zu verdanken, dass ich mit dem Schreiben begann.

An ihm schätze ich bis heute die Meisterschaft, mit der er Romanfiguren zum Leben erweckt, und wie er den Leser mit wenigen Zeilen in seine Geschichte hineinsaugt. (Dean, du warst ein guter Lehrmeister, aber deine letzten Bücher haben mich doch arg enttäuscht.)

Meine ersten Schreibversuche waren – wen wundert es? – Horrorgeschichten. Viele von ihnen sind leider verlorengegangen, einige wenige haben den langen Weg von 3,5“ Disketten auf die Festplatte meines Rechners überlebt.

Als ich mich dann irgendwann ernsthaft bemühte, etwas zu verkaufen, musste ich feststellen, dass das Horrorgenre bei Verlagen nicht sehr beliebt ist. Als deutscher Autor, der noch nie etwas veröffentlichte hatte, war es fast unmöglich, Kurzgeschichten an den Mann zu bringen. (Was mich bis heute erstaunt, denn King und Koontz sind nach wie vor sehr beliebt und finden Millionen Leser auf der ganzen Welt.)

Vor einigen Jahren trat meine Karriere als Autor auf der Stelle. Ich musste einige herbe Rückschläge hinnehmen und spielte mindestens zweimal pro Woche mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen.

In dieser Phase kehrte ich zu meinen Anfängen zurück. Ich wollte mich von allen Marktzwängen und dem Schubladendenken der Verlage befreien, schaltete mein Textverarbeitungsprogramm ein und begann zu schreiben.

Seit Tagen spukte die Idee eines Talismans durch mein Schriftstellerhirn, der für die Erfüllung der Wünsche seines Besitzers einen mörderischen Preis verlangt – nicht besonders originell, denn solche Geschichten gibt es vermutlich haufenweise.

Mir ging es allerdings nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern zu meinen Wurzeln zurückzukehren. Also begann ich zu tippen. Ohne Plot, mit nur einer einzigen Idee und der vagen Vorstellung einer Hauptfigur.

„Der Talisman“ habe ich innerhalb von zwei Tagen geschrieben, gewissermaßen ohne Punkt und Komma. Es war mir gleichgültig, ob die Geschichte sich verkaufen ließ und in eine Schublade passte.

Meine Agentin sagte später, dass es das Beste sei, was ich seit Langem produziert hatte, einfach weil ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen hatte und meinem Instinkt gefolgt war. Ich habe sie (die Geschichte, nicht meine Agentin) nun für das Black Stone Magazine noch einmal überarbeitet.

Mein Schreibstil hat sich weiterentwickelt, aber auf sprachliche Finessen kommt es mir in diesem Fall nicht an. „Der Talisman“ hat mir auf magische Weise geholfen, als Autor wieder in die Spur zu kommen und mich daran zu erinnern, warum ich schreibe. (Ich hoffe, er verlangt nicht irgendwann seinen Lohn dafür.)

Ich freue mich sehr, dass die Geschichte im „The Black Stone Magazine“ erscheint.

Zum Schluss noch ein Hinweis: Wer mehr über die Figur der Jule erfahren möchte, dem empfehle ich meinen Thriller „Seelensammler“. In ihm habe ich Jules Geschichte weitererzählt.

Volker Dützer, Juli 2024


Der Talisman

Teil 1

von Volker Dützer 

- 1 -

Der Motor des VW-Bully stotterte und verstummte so plötzlich, als hätte ihn eine unsichtbare Hand ausgeschaltet. Eddie spürte eine vertraute und zugleich Furcht einflößende Unruhe in sich aufsteigen. Die Angst vor verborgenen Mächten, die sein Schicksal beeinflussten, beherrschte seine Gedanken, seit er erlebt hatte, wie 158 Menschen um ihn herum mit einem Lächeln auf den Lippen starben.

Eddie wurde immer wieder von Unglücksserien heimgesucht, die zu unglaublich waren, um zufälligen Ursprungs sein zu können. Zwar kannte er alle Rituale, um einen Bannkreis gehen das Böse um sich herum zu ziehen, aber sie versagten regelmäßig. Situationen, in denen er sich ein Loch im Boden wünschte, in dem er versinken konnte, waren seine ständigen Begleiter. Eddie hatte das Pech sozusagen adoptiert. 

Es war an ihm festgewachsen wie ein drittes Bein, über das er dauernd stolperte. Er wusste sogar, wie die unheimliche Macht, die ihm im Nacken saß, aussah: Eine gehässig grinsende, gebückte Gestalt, die den Trick kannte, in dem Augenblick zu verschwinden, wenn man sich nach ihr umdrehte.

Dass der klapprige VW-Bus, in dem er zeitweise sogar wohnte, sich irgendwann auf den Weg in den Autohimmel machen würde, war unausweichlich gewesen. Aber musste sich die Karre ausgerechnet in dieser Einöde dazu entschließen, ihren Geist aufzugeben?

Er ließ den VW in die Einmündung eines Wirtschaftswegs rollen. Der Zeiger der Uhr mit dem vergilbten Zifferblatt am Armaturenbrett sprang auf 16:10 Uhr. Draußen wurde es bereits dunkel. Ihm blieben noch zwanzig Minuten, um Koblenz zu erreichen. 

Wenn er den Vorstellungstermin bei IT-Solutions verpasste, würde Hartmann lange auf die nächste Miete warten müssen. Der fuchsgesichtige Hausverwalter nannte ihn einen abergläubischen Dummkopf. Er glaubte nicht an die Vorsehung, für ihn existierten nur Schlamperei und Zacken in der Statistik.

Das Hufeisen am Armaturenbrett klapperte leise, als Eddie die Fahrertür öffnete. Er stieg aus dem Wagen, schlug den Kragen seiner Winterjacke hoch, um sich gegen den einsetzenden Regen zu schützen, und zündete sich eine Zigarette an. Es machte keinen Sinn, unter der Motorhaube nach dem Problem zu suchen. Von Motoren verstand er so wenig wie eine Ente von Quantenphysik. Fröstelnd zog er den Reißverschluss hoch und blickte sich um.

Heute war der fünfte Januar. Die letzte Raunacht stand bevor, für ein Vorstellungsgespräch ein ungünstiger Zeitpunkt. Eddie hatte nicht gewagt, dem Personalchef zu erklären, dass jeder andere Tag besser geeignet wäre. Er brauchte den Job und durfte seinen Auftritt nicht versauen.

Die meisten Leute lachten ihn wegen seiner Angst vor dunklen Mächten aus, aber Eddie wusste, dass sie sich irrten. Diese Dinge gab es ebenso wie ihre hellen Gegenspieler, denn wenn diese ihn nicht beschützt hätten, wäre er bereits im Alter von sechs Jahren gestorben.

Die kahlen Äste der froststarren Bäume formten sich über der Landstraße zu einem Gewölbe aus knochigen Gespensterfingern. Die mit Asphaltflicken und Löchern übersäte Buckelpiste wand sich in einer sanften Kurve durch den Wald und entzog sich hinter einer Kuppe Eddies Blicken. 

Wäre er auf der Hauptstraße geblieben, hätte sich der Stau vielleicht inzwischen aufgelöst. Aber er hatte sich für die Nebenstrecke entschieden, über die vermutlich zuletzt vor einer Woche ein Traktor gerumpelt war. Hartmann hätte es eine falsche Entscheidung genannt, Eddie dagegen war seinem Instinkt gefolgt, der ihn wieder mal zielsicher in die Irre geführt hatte.

Er trat die Kippe aus und zog sein Smartphone aus der Jackentasche. Bis Koblenz würde er es niemals rechtzeitig schaffen, also musste er eine Ausrede erfinden – ein Unfall wäre nicht schlecht, auf jeden Fall etwas Dramatisches. Hauptsache, seine Geschichte hörte sich logisch an und erweckte Mitleid.

Eddie wischte über das Display und stellte fest, dass der Akku leer war. Er hob ruckartig den Kopf, weil er ein meckerndes Feixen zu hören glaubte. Eine Sekunde lang war er sicher, dass sich in den Schatten des winterlichen Waldes eine bucklige Gestalt verbarg und sich köstlich amüsierte. Bang, bang, der Mann mit dem Hammer hatte wieder zu geschlagen. 

Er steckte das Telefon ein und dachte nach. Vor ein paar Minuten war er durch ein Dorf gefahren. Wenn er sich beeilte, könnte er von einer Tankstelle oder einem Lebensmittelladen aus telefonieren. Eddie trabte los und schüttelte die düsteren Gedanken ab. Vielleicht war er ja doch ein Glückspilz und nur zu dämlich, es zu bemerken. Wenn man als einziger ein Massaker ohne einen Kratzer überlebte, nur weil man zufällig auf dem Klo saß, hatte man zweifellos eine Menge Dusel gehabt. 

Die Bilder, die ihn seit zwanzig Jahren jede Nacht quälten, manifestierten sich vor seinen Augen. Nein, er hatte nicht als Einziger überlebt. Da war noch ein anderes Kind gewesen, ein Mädchen. Es hatte sich unter dem Altar versteckt, hinter dem der Erleuchtete seine Predigten gehalten hatte. Eddie hatte es nie wieder gesehen.

Bald ging der Regen in Schnee über. Die Raunacht begann. Sie war dunkel und kalt und unheimlich. Aus dem schwarzen Himmel fielen Schneeflocken.

- 2 -

Das Dorf bestand aus einer Ansammlung windschiefer Fachwerkhäuser, einem gepflasterten Platz, auf dem Unkraut in den Fugen wucherte, und einer Tankstelle. Das Kassenhäuschen war dunkel, die Leuchtreklame ausgeschaltet. Auf einer Wiese neben einem Schuppen standen Gebrauchtwagen, die langsam einschneiten. Auf der anderen Straßenseite entdeckte Eddie ein Gasthaus. Hinter den Fensterscheiben leuchtete einladend dämmeriges Licht.

Nervös näherte er sich dem Eingang. Eine Folge seiner traumatischen Kindheitserlebnisse war, dass Menschenansammlungen und überfüllte Räume ihm eine Höllenangst einjagten. Er hoffte, dass der Schankraum zu dieser frühen Stunde leer war.

Ein warmer Lufthauch und der Geruch von Kaffee und gebratenen Spiegeleiern schlug ihm entgegen. Was andere Menschen als gemütlich empfanden, raubte ihm den Atem. Er blieb im Windfang stehen und kämpfte gegen die Enge in seiner Brust an. 

Die niedrige Decke aus dunkel gebeiztem Holz schien sich auf ihn herabzusenken, die Wände rückten dichter zusammen. Seine überreizten Sinne erzeugten eine Art Seifenblase, deren unsichtbare Haut ihn vom Rest der Welt abschirmte. Vor vielen Jahren hatte ihm dieser Trick geholfen, nicht verrückt zu werden, aber irgendwann hatte er verstört bemerkt, dass sich diese Mauer nicht mehr einreißen ließ. Sie kam und ging, ohne dass er steuern konnte.

An den Tischen im Schankraum saß niemand, am Tresen hockten drei Männer in blauen Arbeitshosen und stierten in ihre Biergläser. Das Radio dudelte einen Schlager. Als Eddie eintrat, blickte einer der drei auf und musterte ihn mit unverhohlener Neugier. Wahrscheinlich bekam man in diesem Nest nicht oft Fremde zu sehen. Der Mann trug derbe Drillichkleidung und eine verschlissene Jacke, auf seinem kantigen Schädel thronte ein unförmiger Hut. In seinen grauen Bart hatten sich Schaumflocken verirrt.

Der Wirt tauchte aus einem Durchgang hinter der Theke auf und blickte ungehindert durch die Blase hindurch, die Eddie umgab. Ungefragt zapfte er ein Bier und stellte es auf den Tresen, dazu einen Schnaps.

„Ein Sauwetter ist das“, sagte er.

Eddie nickte und näherte sich einem freien Barhocker.

„Könnte ich mal telefonieren?“, fragte er.

Der Wirt hob fragend die Augenbrauen.

„Ich hatte eine Autopanne. Mein Handyakku ist leer.“

Sein Blick folgte dem Daumenwink des Wirts. In einer Nische hing ein blassgrünes Telefon mit altmodischer Wählscheibe.

Eddie suchte in seinen Hosentaschen nach einem Geldschein und reichte dem Wirt einen Zehner. „Danke. Stimmt so“, murmelte er.

Der Wirt strich den Schein ein. Ihre Fingerspitzen trafen sich. Eddie zuckte zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag erlitten. Er mochte es nicht, berührt zu werden. Fass mich nicht an und ich fasse dich nicht an, so lief das. Nervös trank er das Bier und kippte den Schnaps hinterher.

Dann zog er sein Smartphone aus der Jackentasche, um im Adressbuch nach der Nummer zu suchen, doch inzwischen war der Akku vollkommen leer, das Display blieb dunkel.

„Abschleppwagen gefällig?“, fragte der Mann mit dem Bierschaum im Bart.

„Ein Taxi wäre besser“, antwortete Eddie.

„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte der Nachbar des Bärtigen.

„Nach Koblenz.“

Zu spät fiel Eddie ein, dass er kein Geld für die lange Fahrt hatte. Sein Vorstellungstermin würde unweigerlich platzen. Wahrscheinlich würde Hartmann ihn teeren und federn, wenn er seine Mietschulden nicht bezahlte.

Zwei der Männer warfen sich einen Blick zu, der Bärtige nickte, glitt von seinem Hocker und baute sich dicht vor Eddie auf.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, sagte er leise.

Eddie wich unwillkürlich zurück, weil der Mann mühelos die Mauer durchbrochen hatte. Er konnte seinen Atem auf der Wange spüren, eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Bier.

„Vorschlag?“, wiederholte er lahm.

„Mir gehört die Tankstelle gegenüber. Ich muss heute noch einen Wagen nach Koblenz überführen. Fahren Sie ihn hin. Ich spare mir die Rückfahrt und Sie sich den Abschleppdienst.“

Eddie zögerte. War das seine Rettung? Er war spät dran, aber wenn er raste wie ein Verrückter, könnte er es immer noch schaffen.

Plötzlich fiel ihm die unnatürliche Stille auf. Die Männer am Tresen, ja selbst der Wirt schien den Atem angehalten zu haben. Alle warteten gespannt auf seine Antwort. Selbst das Radio war verstummt.

„Okay“, sagte er schließlich.

Die Spannung im Raum löste sich schlagartig, auch die Seifenblase um ihn herum platzte.

Der Bärtige nickte. „Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen den Wagen und gebe Ihnen die Schlüssel.“

Eddie folgte dem Tankwart nach draußen. Ein stürmischer Ostwind spielte mit den herabwirbelnden Schneeflocken, als hätte ein Riese die Schneekugelwelt geschüttelt, in der das verfluchte Dorf gefangen war.

Der Autohändler drückte den klobigen Hut in die Stirn, überquerte die Straße und schloss die Verkaufsbude auf. Kurz darauf kehrte er zurück und hinkte auf einen schwarzen Ford Mondeo zu.

„Geben Sie den Wagen beim Ford-Händler in Kesselheim ab. Auf dem Beifahrersitz liegt ein Zettel mit der Anschrift. Lassen Sie sich Zeit und erledigen Sie erst Ihre Geschäfte.“

Eddie schluckte. Das klang wie: „Regeln Sie Ihre Angelegenheiten, bevor Sie ins Gras beißen.“

Er versuchte, seine Nervosität zu überspielen. Die ganze Sache kam ihm merkwürdig vor.

„Haben Sie keine Angst, dass ich mit der Karre abhaue?“, fragte er.

„Nein. Das werden Sie nicht.“

„He, schon gut. Sollte nur ein Scherz sein.“ Er deutete auf den Wagen und grinste. „Sie haben doch keine Leiche im Kofferraum, oder so was?“

Der Mann zuckte mit dem Mundwinkel. „Nein, hab ich nicht. Wollen Sie nachschauen?“

Eddies Grinsen gefror. „Nein … ich glaube, das wird nicht nötig sein.“

Der Mann warf ihm den Schlüssel zu, den Eddie geschickt auffing.

„Gute Fahrt.“

Der Tankwart zog den bulligen Kopf zwischen die Schultern und humpelte auf die Gastwirtschaft zu. Auf dem Gehweg blieb er stehen und drehte sich um. Die Straßenbeleuchtung sprang an, eine Natriumdampflampe warf ihr fahlgelbes Licht auf den Tankwart. Schneeflocken tanzten um ihn herum wie diensteifrige Geister.

„Und lassen Sie sich hier nie wieder blicken“, rief er.

Eddie machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich verstehe nicht …“

Der Mann zog sich in den Schatten des Eingangs zur Wirtschaft zurück. „Das werden Sie“, sagte er. „Oh ja, das werden Sie.“

Ein Lastwagen durchquerte den Ort und verdeckte die Sicht auf den Autohändler, Schneematsch spritzte unter den schweren Zwillingsreifen hervor. Eddie brachte sich in Sicherheit. Der Laster passierte den Ortskern, der Bärtige war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

- 3 -

Eddie blieben noch drei Minuten, um rechtzeitig in Koblenz anzukommen. Es war einfach nicht zu schaffen. Immerhin hatte er Zeit genug, sich eine Erklärung für seine Verspätung auszudenken. Er hielt sich nicht für besonders gerissen oder talentiert, aber er besaß die Gabe, aus dem Stegreif glaubhafte Ausreden zu erfinden.

Auf dem Beifahrersitz des Mondeo lag eine Ledermappe mit den Fahrzeugpapieren. An ihr klebte ein Zettel mit einer Adresse in Kesselheim. Einen Augenblick lang war er versucht, doch noch den Kofferraum zu öffnen. Vielleicht benutzten ihn die Männer als Drogenkurier. Er verwarf den Gedanken wieder, die Vorstellung war absurd, dass diese Landeier Crack oder Speed schmuggelten. 

Trotzdem steckte er in der sonderbarsten Sache, die er jemals erlebt hatte. Wenn er den Mondeo verhökerte und sich aus dem Staub machte, würde der Bärtige ihn niemals finden. Er kannte weder seine, Eddies Adresse noch seinen Namen, und trotzdem hatte er ihm einen Wagen anvertraut, der mindestens 20.000 Euro wert war.

In einem Ablagefach zwischen den Sitzen entdeckte er ein Ladekabel, das zum Anschluss seines Smartphones passte. Er schloss das Telefon an, rief bei IT-Solutions an und erzählte eine Mitleid erregende Story von einem Unfall mit mehreren Verletzten. Aufgeregt schilderte er, wie er eine schwangere Frau höchstpersönlich durch gekonnte Herzmassage ins Leben zurückholen konnte. 

Die Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung versprach, den Personalchef zu informieren, konnte aber nicht versprechen, dass er einen neuen Termin mit Eddie vereinbaren würde. Inzwischen hatten sich offenbar noch drei weitere Bewerber eingestellt. Er legte auf und fluchte.

Der Motor sprang gehorsam an. Eddie lenkte den Ford auf die Straße und ließ das seltsame Dorf hinter sich. Vielleicht hatte er zur Abwechslung einfach mal Glück. Ein Zacken in der Statistik, würde Hartmann sagen.

Er drehte die Heizung auf, die Scheibenwischer reagierten auf den Regensensor und begannen automatisch zu arbeiteten. Mit der Wärme, die aus den Lüftungsdüsen kroch, stellte sich ein schwacher, fremdartiger Geruch ein, moderig und herb-süßlich. Er ließ Eddie sonderbarerweise an Friedhofserde denken. Vergeblich suchte er nach der Ursache.

Am Rückspiegel baumelte an einem Lederriemen eine kleine Figur mit einem spitz zulaufenden, stilisierten Gesicht und einem schmächtigen Körper, der im Vergleich zum Kopf zu klein ausfiel. Er hätte schwören können, dass sie vorhin noch nicht dagewesen war, aber wahrscheinlich hatte er sie übersehen, weil er sich mit anderen Dingen beschäftigt hatte – mit einem wichtigen Vorstellungsgespräch zum Beispiel, das so gut wie sicher nicht stattfinden würde.

Der Mondeo ließ das Waldgebiet hinter sich und erreichte freies Gelände. Der Schneefall hatte nachgelassen, doch auf der ebenen Fläche peitschte der Wind noch immer feine Schneekristalle vor sich her. Eddie trat das Gaspedal durch und trieb den Ford seinem Ziel entgegen. Vier Minuten später passierte er einen Bahnübergang. Hinter der Kuppe stand ein Streifenwagen am Straßenrand. Ein uniformierter Polizist winkte mit seiner Kelle.

„Scheiße“, murmelte Eddie.

Das Bier und der Korn, den er hastig hinuntergekippt hatte, stießen ihm sauer auf. Kein Pech … nur ein Zacken in der Statistik.

Er drosselte das Tempo und hielt etwa zehn Meter vor dem Streifenwagen. Die Figur am Rückspiegel schaukelte, rutschte ab und fiel in seine Hand, als suchte sie seine Nähe. Der Polizist kam auf Eddie zu, der die Seitenscheibe herabließ und die Figur achtlos in die Mittelkonsole warf.

„Allgemeine Verkehrskontrolle. Fahrzeugpapiere und Führerschein bitte.“

Eddie suchte in der Mappe auf dem Beifahrersitz nach dem Fahrzeugschein und reichte ihn dem Beamten, zusammen mit seinem Führerschein. Dabei vermied er es, ihn anzusehen und hielt den Atem an.

Umständlich überprüfte der Polizist die Papiere. Ein zweiter schlich misstrauisch um die Motorhaube.

„Würden Sie bitte aussteigen und den Kofferraum öffnen?“

Er war erledigt. Sie suchten nach einem schwarzen Ford Mondeo, nach diesem Mondeo. Hatte der undurchsichtige Autohändler den Wagen etwa gestohlen und benutzte ihn als Kurier?

Er zog den Zündschlüssel ab, stieg aus und ging langsam zum Heck. Der einzige, der nicht weiß, was da drin liegt, bin ich, dachte er. Die wissen es. Also doch eine Leiche, oder ein Koffer mit Diebesgut, vollgestopft mit Geldscheinen. Aber dann hätte der Kerl mit dem unförmigen Hut ihm nicht den Wagen anvertraut. Oder doch?

Die Warnblinkanlage blitzte auf, als er auf den Öffner der Fernsteuerung drückte, der Kofferraumdeckel sprang einen Spalt auf. Eddie fuhr mit dem Zeigefinger unter die Kante und hob ihn an.

Der Kofferraum war leer bis auf ein Warndreieck, eine neonfarbene Warnweste und einen Verbandskasten. Er stieß seufzend den Atem aus, der in der kalten Luft kondensierte.

„Haben Sie Alkohol getrunken?“, fragte der Polizist.

„Nein.“

„Dann haben Sie sicher nichts gegen eine Atemalkoholprobe einzuwenden.“

Eddie schüttelte den Kopf. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass man sich weigern konnte. Aber dann würden sie ihn ins nächste Krankenhaus bringen und ihm Blut abnehmen. Alles würde nur noch schlimmer werden. Er fügte sich, blies in das Gerät vor seiner Nase und verfluchte sein Pech, den klapprigen VW-Bully, den Tankwart und den Polizisten gleich mit.

Der Beamte nahm ihm das Ding wieder ab, kontrollierte die Anzeige und runzelte die Stirn. Sein Kollege sah ihm über die Schulter und zuckte mit den Achseln.

„Sie können weiterfahren.“

Eddie glotzte den Polizisten blöde an.

„Weiterfahren!“ Er wedelte ungeduldig mit seiner Kelle.

„He … okay, danke.“

Eddie stieg ein und gab Gas. Drei Minuten später hielt er an und ließ die Seitenscheibe herab. Etwas in diesem Wagen stank wie die Pest. Der Geruch nach feuchter Erde hatte sich verändert, nun roch es durchdringend nach Tod und Verwesung. 

Er erinnerte sich an die komische kleine Figur und durchstöberte die Mittelkonsole. Er war sicher, dass er sie in die Ablage geworfen hatte, nachdem sie in seine Hand gefallen war, aber er fand sie nicht. Sie war nicht mehr da.

- 4 -

Eddie quälte sich durch das Verkehrschaos, das jedes Mal ausbrach, wenn in Koblenz mehr als zwei Schneeflocken vom Himmel fielen. Wenn er den Job bei IT-Solutions als Programmierer nicht bekam, konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen. 

Hartmann würde keine Sekunde zögern, ihn bei der Eigentümergesellschaft anzuschwärzen und dafür zu sorgen, dass sie ihn rauswarfen. In seinem zum Camper umgebauten VW-Bus konnte er auch nicht mehr übernachten. Ihm fehlte das Geld für einen Abschleppdienst, von der Reparatur ganz zu schweigen.

Trotz seiner Sorgen beschäftigte ihn das Verschwinden der Figur noch immer. Wahrscheinlich war sie nicht besonders wertvoll gewesen, sondern ein billiger Anhänger, den man an jedem Kiosk kaufen konnte. Dennoch … wo war das verdammte Ding geblieben?

Eine halbe Stunde später als geplant stellte er den schwarzen Mondeo auf einem Parkplatz vor dem Firmengebäude der Softwarefirma ab und meldete sich an der Pforte an. Eine Frau um die fünfzig mit feuerrotem Haar hörte sich gelangweilt seine Geschichte an, musterte ihn mitleidig und schickte ihn dann in den ersten Stock hinauf. Eddie ließ sich in einen weichen Sessel fallen und wartete. Nach zehn Minuten trat ein schlanker Mann in einem anthrazitfarbenen Businessanzug aus einer der geräuschlos schließenden Türen. Eddie sprang auf.

„Dr. Weidmann?“, fragte Eddie. „Ich bin Edward May. Wir haben telefoniert.“

Weidmann eilte an ihm vorbei den Gang entlang. Beiläufig sah er auf seine Armbanduhr.

„Und was wollen Sie hier, Herr May?“

Eddie beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.

„Wir … haben einen Termin.“

„Hatten. Sie sind zu spät. Ihre Mitbewerber waren pünktlich.“

„Ich hatte einen Unfall und musste erste Hilfe leisten. Ich …“

„Es gab keinen Unfall. Sie sind ein Lügner“, sagte Weidmann.

„He, das stimmt nicht.“

„Einer unserer Außendienstmitarbeiter hat zufällig vor einer Stunde die Stelle passiert, an der sich Ihr bühnenreifes Drama abgespielt haben soll. Muss ich dem noch etwas hinzufügen? Entschuldigen Sie mich jetzt, oder ich rufe den Sicherheitsdienst.“

Eddie blieb stehen. Alle Vorzeichen hatten auf einen Unglückstag hingedeutet. An einem solchen Tag schloss man keine Geschäfte ab. Nicht in einer Raunacht.

„Ich scheiß auf den Job“, rief er Weidmann nach.

„Freut mich, dass Sie es sich leisten können.“

Der Personalchef verschwand in einem der Büros.

Eddie ging hinunter ins Erdgeschoss. Die Rothaarige am Empfang verkniff sich mühsam ein Grinsen. Eddie kramte in seinem Gedächtnis nach wirksamen Fluchformeln für Haarausfall und Akne und verließ das Firmengebäude.

Der Mondeo war von einer feinen weißen Schneehaube bedeckt. Einen Moment lang erwog Eddie ernsthaft, den Wagen zu Geld zu machen, aber er verwarf den Gedanken wieder. Er war gut darin, sich herauszureden, aber kein Dieb.

Nachdem er den Ford bei dem Händler in Kesselheim abgegeben hatte, lief er zwei Kilometer bis zu einer Bushaltestelle. Das Kleingeld in seiner Hosentasche reichte gerade noch für eine Fahrkarte quer durch die Stadt.

Er setzte sich auf die mit Graffiti besprühte Plastikbank und rauchte. Lastwagen rollten dröhnend vorbei und spritzten Straßenschmutz und Schneematsch auf, ein Notarztwagen mit eingeschaltetem Blaulicht raste auf der Überholspur Richtung Innenstadt. Nur vereinzelt waren Fußgänger unterwegs, die meisten hielt wohl das schlechte Wetter in ihren Wohnungen.

Eddie stand auf und begann auf und ab zu laufen, um seine eiskalten Zehen zu wärmen. Auf dem Gehweg näherte sich eine schmale Gestalt, Kopf und Gesicht mit einem Wollschal und einer dunkelblauen Mütze geschützt.

Die Frau war in seinem Alter, etwa Mitte zwanzig. Sie trug eine Hornbrille und einen grauen Wintermantel und kam, den Blick starr auf den Boden gerichtet, auf die Bushaltestelle zu. Ihre Lippen bewegten sich im Takt lautloser Worte. Es kam ihm vor, als ob sie jeden ihrer Schritte zählte. Eddie empfand sofort eine seltsame Vertrautheit. Ihm war, als würde er sie bereits kennen, obwohl er ihr heute zum ersten Mal begegnete.

Sie bemerkte ihn erst, als sie die Haltestelle erreicht hatte. Erschrocken blieb sie stehen, trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen und schien am liebsten Reißaus nehmen zu wollen. Ihr furchtsamer Blick streifte den seinen nur für einen Augenblick und traf ihn dennoch mitten ins Herz. 

Die Brille, die Mütze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, und der bis oben zugeknöpfte Mantel dienten nur einem Zweck: Sie wollte ihr Wahres Ich verbergen, weil sie verletzt worden war, so tief und schmerzhaft, wie es ihm selbst widerfahren war. Er konnte nicht erklären, woher er all diese Dinge wusste, aber er spürte, dass sie der Wahrheit entsprachen.

Nervös steckte sie eine dunkelbraune Haarsträhne unter die Mütze zurück, mit der der Wind vorwitzig spielte. Die Geste weckte in Eddie eine tief verborgene Erinnerung an Wärme und Geborgenheit. Sein Kopf fühlte sich blutleer an, sein Herz pochte heftig und ein Schwarm Schmetterlinge flatterte in seinem Bauch auf. 

Auf das Geschwätz von Liebe auf den ersten Blick gab er nichts, aber er begriff plötzlich, dass er sich geirrt hatte. Es gab sie, und sie begegnete ihm in diesem Augenblick.

„Setz sich doch. Hier drinnen ist es windgeschützt“, sagte er.

Gewöhnlich kümmerte er sich nicht um andere Menschen, um Frauen schon gar nicht, denn sie beachteten ihn zumeist sowieso nicht. Auf eine verfluchte Weise schien er für sie unsichtbar zu sein. Aber nun geschah alles von selbst, er brauchte sich nicht zu verstellen, nichts zu tun, außer den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Sie antwortete nicht, nahm aber unsicher auf der Bank Platz und hielt den Blick krampfhaft auf einen Punkt auf dem Boden gerichtet. Eddie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, ein Gespräch zu beginnen. Sein Herz raste, er spürte den schneidend kalten Wind plötzlich nicht mehr, dafür etwas anderes, verwirrendes: Diese Frau war wie er. Er konnte die unsichtbare Seifenblase um sie herum beinahe mit seinen Fingern berühren. Sie schützte sich auf die gleiche Weise, wie er es tat.

„Mistwetter“, war alles, was er hervorbrachte.

Sie reagierte nicht, schien noch zu schrumpfen und krümmte sich zusammen wie ein Igel, der sich ins sein Stachelkleid zurückzieht.

Fieberhaft überlegte er, wie er sie aus ihrem Versteck locken könnte. Doch bevor ihm etwas Brauchbares einfiel, stoppte ein Bus vor der Haltestelle. Er fuhr Richtung Innenstadt, Eddie hingegen wohnte in einem Vorort von Koblenz auf der anderen Rheinseite. Die Frau mit der blauen Mütze erhob sich und ging mit gesenktem Kopf auf den Bus zu. 

Sie hatte blaue Augen, mit einem Kranz aus braun-goldenen Sprenkeln rings um die Pupillen. Er geriet in Panik. Wenn sie erst eingestiegen war und sich die Türen schlossen, würde er sie nie wiedersehen.

„Ich wünschte mir, ich könnte es abschalten“, sagte Eddie leise. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat, aber er war sicher, dass sie es verstehen würde.

Sie blieb stehen und sah zurück.

„158“, sagte sie. Dann stieg sie in den Bus. Die Türen schlossen sich.

„Warte!“

Eddie lief dem Bus nach, aber es war zu spät, er hatte den Moment verpasst. Er kannte weder ihren Namen noch ihre Adresse. Aber eins wusste er: Er hatte dieses Mädchen schon einmal gesehen. Vor langer Zeit, als einzige Lebende unter 158 Toten.

© by Volker Dützer

 

- Die Fortsetzung der Kurzgeschichte folgt  am 4. August 2024 im „The Black Stone Magazine # 8“-

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