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Samstag, 4. Mai 2024

Ein Interview mit dem Autor Christian Dörge

Ingo Löchel: Herr Dörge, können Sie den Lesern des Online-Magazins kurz etwas über Ihre Person erzählen? 

Christian Dörge: Zunächst möchte an ich anmerken, wie sehr ich mich darüber freue, dass Ihr Online-Magazin Interesse an meiner Arbeit hat und ich mich und den literarischen Teil meines kreativen Wirkens hier vorstellen darf.

Was erzählt man über die eigene Person, ohne Dritte zu langweilen oder gar zu weitschweifig zu werden? Machen wir's also kurz: 

Ich werde in Kürze 55 Jahre alt, lebe in München und in Linköping/Schweden, bin verheiratet und Vater einer wunderbaren Tochter und bin seit nunmehr 37 Jahren als freischaffender Künstler tätig.

Dies bedeutet im Detail: Ich arbeite als Schriftsteller, Musiker, Sänger/Spoken Word Artist, Komponist/Produzent, Bildender Künstler, Dramatiker, Theaterschauspieler und –regisseur.

Im Laufe der Jahre habe ich zahlreiche Bühnenstücke geschrieben und inszeniert sowie (für den Moment) ungezählte Bücher und CDs veröffentlicht, obwohl gemäß des Zeitgeist-Trends das Pendel mehr und mehr in Richtung Download/Streaming ausschlägt. Was höchst bedauerlich ist, denn ich bin mit großer Hingabe ein haptischer Mensch.

Ingo Löchel: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Christian Dörge: Das lässt sich nicht exakt eruieren oder lokalisieren. Ich erinnere mich tatsächlich nicht einen bewussten Moment X; bei mir war's (wie vermutlich bei den meisten Kollegen/Kolleginnen der schreibenden Zunft) ein langer, eher unauffälliger Prozess.

Die Basis waren zweifellos meine tiefe Leidenschaft fürs Lesen und meine generelle Liebe zu Büchern. Irgendwann – es dürfte im Sommer 1981 gewesen sein – schenkten mir meine Großeltern eine Schreibmaschine (für Kenner: eine Privileg Reiseschreibmaschine 1600); zweifellos waren sie sich sicher, dass ich irgendetwas  Sinnvolles damit anzufangen wusste.

Nun, ich war noch recht jung, hatte einen Heidenrespekt vor diesem Apparat (besagter Schreibmaschine), doch je mehr ich las, umso größer wurde in mir der Drang, selbst Geschichten zu erzählen und auch zu veröffentlichen; von Beginn an hatte ich folglich kein ausgeprägtes Verlangen danach, für die so unrühmliche Schublade zu schreiben.

Zunächst schrieb ich – wohl beeinflusst von einigen Heftroman-Serien, denen ich damals ebenso kurzzeitig wie eifrig als Leser meine begeisterte Aufmerksamkeit schenkte – diverse Horror-Kurzgeschichten; ich schrieb mit der Hand, denn von der Schreibmaschine ließ ich noch die Finger.

An die Ergebnisse meiner ersten Versuche vermag ich mich allerdings (Dank eines gnädigen Gottes) nicht mehr zu erinnern, es liegt jedoch die Wahrscheinlichkeit nahe: Diese Kurzgeschichten waren durch die Bank grandios gescheiterte Fehlversuche.

1982 habe ich – sehr zu meinem Erstaunen (denn ich habe den Text gar nicht eingereicht) – einen hessischen Nachwuchspreis für die Frankfurt-inspirierte Erzählung Komtur gewonnen, selbstverständlich keine Horror-Story, der Preis war ordentlich dotiert, was mir ausgesprochen gefiel (und, ja, schmeichelte). Diese Erzählung war eine der ersten, die ich mit der Maschine geschrieben habe (ohne Normseiten o. ä., weil ich noch von rein gar nichts eine Ahnung hatte).

Noch im gleichen Jahr ist wg. Komtur ein Verlag an mich herangetreten – was nicht ganz unproblematisch war, weil ich schlicht noch zu jung für jegliches business war –, erwartungsgemäß mit dem Ansinnen, ich möge daraus 'einen Roman machen'. Lustigerweise wurde eine Garantiesumme geboten (heute: undenkbar), es wurden sehr engagiert (und mit erheblicher Unterstützung des Verlages) Lösungen für die zahlreichen Probleme gefunden, die sich aus meinem Alter ergaben; außerdem zog der Verlag ein Pseudonym aus dem Ärmel, was mir auffallend gelegen kam, denn ich war all dem damals in der Sache durchaus gewachsen, aber berühmte 'Drumherum' behagte mir nicht. Wie gesagt, ich war wirklich noch sehr jung.

Der auf Komtur basierende Roman erschien zur Buchmesse 1983 (damals ging das noch echt zackig), im gleichen Jahr begann die Zusammenarbeit mit meiner ersten Agentin, die zweifellos ein Geschenk des Himmels war; sechzehn Jahre lang habe ich höchst angenehm und effektiv mit ihr gearbeitet.

Bis Ende 1989 habe ich mehr als zwei Dutzend Romane und ich-weiß-(wirklich!)-nicht-wie-viele Kurzgeschichten und Erzählungen veröffentlicht, gelegentlich sogar Horror und Science Fiction. Problematisch wurde es – ab dem Moment, als ich volljährig wurde – , dass Lesungen von Verlagsseite gewünscht wurden, was andererseits naheliegend und vernünftig ist; somit musste ich mich entscheiden, ob ich für den Rest meiner Laufbahn als Autor (von der ich natürlich hoffte, sie würde lange, lange Zeit Bestand haben) den Namen eines Verlagspseudonyms führen würde, oder ob ich den Schritt wagte, einen Neuanfang unter meinem Klarnamen zu beginnen.

Ich probierte es 1987 mit einem Roman unter meinem Klarnamen, was – meiner Agentin sei Dank – bestens funktionierte, und seit 1989 bin ich dabei geblieben. Im Grunde hängt mein Autor-werden mit diversen Zufällen und mit viel, viel Glück zusammen – allerdings auch mit erheblicher Disziplin und mit (bruchfreiem) Fleiß und Ehrgeiz.

Ingo Löchel: 1987 gaben Sie meines Wissens mit „PHENOMENA“ Ihr Roman-Debüt.  Können Sie kurz etwas zur Handlung des Romans verraten?

Christian Dörge: „PHENOMENA“  war die erste relevante Veröffentlichung unter meinem eigenen Namen, und zumindest in dieser identitätsstiftenden Hinsicht ein Debüt – ein Roman, der u. a. bedeutete, dass ich mich selbst als erkennbare Person hinter diesen Roman stellte und den leichteren Weg – den man 'das Pseudonym-Versteckspiel' nennen könnte – verließ.

Phenomena ist im Kern ein Hybrid zwischen einer Dystopie und einem existentialistischen Drama – irgendwer (ich glaube, es war Wolfgang Jeschke) hat den Roman mal mit den Worten Kafka meets Gibson meets Camus definiert, was die Sache ziemlich gut trifft (und auch andeutet, warum Heyne den Roman nicht wollte).

Der Roman ist nur in Teilen linear geschrieben, und zusammenfassend könnte man sagen: „PHENOMENA“   beschreibt den Leidens-/Lebensweg eines (namenlosen) Protagonisten, der sich in einer schrecklichen, grauen, lieb- und beziehungslosen Welt mehr und mehr auflöst und schließlich  ein Teil von ihr wird. Eigentlich... ist Phenomena ein höchst unangenehmer Roman, was einer der Gründe war, weswegen ich die Arbeiten an der Fortsetzung rasch abbrach.

Von „PHENOMENA“ bekam ich sogar bei Lesungen schlechte Laune. Dennoch, mal schauen, möglicherweise wird der Roman in absehbarer Zeit wiederveröffentlicht, die Rechte liegen wieder bei mir.

Ingo Löchel: Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Roman?

Christian Dörge: Das ist eine gute Frage. Ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Ich habe insbesondere 1985 und 1986 immense Mengen für mich komplett neuer Autoren entdeckt – Ballard, Bukowski, Joyce, Kafka, Gibson, Cocteau, Camus, Brecht (ausgerechnet!), aber auch wissenschaftliche Schriften von Freud, Nietzsche usw. usw.

Diese Begegnungen haben sich sehr direkt auf Phenomena ausgewirkt, und ab ca. Ende 1988 habe ich für Jahrzehnte das Terrain linear erzählter Literatur verlassen, und insbesondere die Jahre 1988 bis 2015 haben den Autor aus mir werden lassen, der ich immer sein wollte und der ich im Kern – gottlob – noch immer bin.

Ingo Löchel: Wie lange haben Sie an Ihrem Debüt-Roman geschrieben?

Christian Dörge: Auf Phenomena bezogen: Ungefähr ein Jahr, sofern ich mich korrekt entsinne.

Ingo Löchel: 2017 starteten sie die Serien „FUTUREKILL“ und „SOUTHERN GODS“. Worum geht es in diesen beiden Serien?

Christian Dörge: Um das Jahr 2016 herum bot mir ein Verlag an, Serienstoffe zu entwickeln und gleichzeitig einige Serien zu schreiben. Was ich zunächst ablehnte, insbesondere, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten keine Genre-Literatur geschrieben und eigentlich auch gar keine Lust darauf hatte.

Aber irgendwann... 'hatten' sie mich. Autoren sind käuflich, scheint's. „SOUTHERN GODS“ war als Crime-Noir-Serie konzipiert, ganz im klassischen Sinne (wenn man davon absieht, dass sie in den 50er Jahren auf einer Parallel-Erde spielt und Phantastik-Elemente angedeutet werden); „FUTUREKILL“ indes war als Endzeit-Saga konzipiert, die mir als Idee besser gefiel als sie sich geschrieben anfühlte. Letztlich war ich nicht motiviert genug, um diese Serien weiterzuentwickeln, und beließ es bei wenigen Bänden, die m. W. auch nicht mehr lieferbar sind. Aber beide Serien waren hervorragende Fingerübungen, ein bisschen Handwerk zur rechten Zeit.

Ingo Löchel: Wie kamen Sie auf die Idee dazu?

Christian Dörge: Das vermag ich ehrlich gesagt nicht zu beantworten. Ideen sind einfach da, woher sie kommen... keine Ahnung. Ich muss die Dinge als Künstler nicht erzwingen, ich muss sie im richtigen Moment zur Kenntnis nehmen und nach Bedarf ordnen, mit einem Plot versehen. Alles weitere wächst, derweil es entsteht.

Ingo Löchel: Wer sind die Protagonisten der beiden Serien?

Christian Dörge: SOUTHERN GODS: ein Chandler-inspirierter Privatdetektiv; FUTUREKILL: ein Wanderer, der die Wüsten eine post-nuklearen Erde durchquert und dem es nach Rache gelüstet.

Mit beidem habe ich das Rad nicht neu erfunden, was zweifellos dazu beitrug, dass ich relativ schnell das Interesse verlor. Autoren stellen sich gelegentlich selbst ein Bein, ich bin in dieser Hinsicht bedauerlicherweise keine Ausnahme.

Ingo Löchel: Ab dem Jahr 2021 erschienen eine Vielzahl von Kriminalromane von Ihnen, darunter auch die Krimi-Serien „DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE“, „MÜNCHNER BLUT“, „PRIVATDETEKTIV KANDLBINDER“, „PRIVATDETEKTIV LAFAYETTE BISMARCK“, „PRIVATDETEKTIV REMIGIUS JUNGBLUT“ sowie „RECHTSANWALT SIEMEN FRIESLAND“. Wieso diese vielen und unterschiedlichen Ermittler?

Christian Dörge: Das hat sich eigentlich folgerichtig ergeben – einfach, weil die einzelnen Ermittler an unterschiedlichen Orten agieren (übrigens Orte, an denen ich selbst schon gelebt habe resp. an dem ich noch immer lebe) und ich für mehrere Orte eine entsprechende Anzahl von Ermittlern benötigte.

Am Anfang meiner Arbeit als Krimi-Autor (ca. 2016/17) standen indes „DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE“; für diese Reihe beauftragte mich ein (hier ungenannter) Verlag, der jedoch mehr 'Fan-Service' wünschte – also Romane, welche den Stil der Rialto Filme adaptierte.

Das Projekt konnte in dieser Form jedoch nur scheitern, weil ich keine Veranlassung hatte, die ikonischen Bösewichte wie den schwarzen Abt, den grünen Bogenschützen oder gar den Hexer – so gern ich diese Gestalten persönlich auch mag – oder Kopien derselben ins Rennen zu schicken; außerdem fehlt mir jegliches Talent für Humor, ich bin vollkommen unwitzig, aber ein gerüttelt' Maß an Gaudi war nach Ansicht des Verlages jedoch dringend erforderlich. Dafür indes... war ich nicht der Richtige.

Also schrieb ich Die Frau im Dunkel und brachte die Reihe anderswo unter, wo weder Humor noch ein Eddie-Arendt-Tollpatsch von mir erwartet wurden und wo niemand schwarze, gelbe, blaue, grüne Dunkelmänner auf dem vorweihnachtlichen Wunschzettel vermerkt hat. Natürlich habe ich die Rialto-Filme ausdrücklich zum Vorbild meiner Wallace-Reihe erklärt, aber eben in der Weise, die mir und meinen Vorstellungen behagt.

Meine Detektive Kandlbinder und Jungblut ermitteln in München – Kandlbinder ist hier der dienstälteste, und da hat es ca. 2019 einen klassischen Fehlstart mit zwei Bänden gegeben, bevor ich die Serie schließlich mit Kandlbinder und die eiskalte Schöne gewissermaßen auf Kurs brachte. Warum München? Nun, weil ich seit 24 Jahren größtenteils in München lebe und ich die Stadt einfach gern mag. Für einen Krimi-Autor ist München fast schon ideal.

Auf einen hübschen Zufall sind indes die Fälle zurückzuführen, die Lafayette Bismarck zu klären hat: In Frankenberg/Eder, wo ich seinerzeit das Gymnasium besucht habe, führt ein ehemaliger Mitschüler eine ganz wunderbare Buchhandlung, und in irgendeinem Gespräch ließ er den Gedanken fallen, es wäre doch prima, gerade im beschaulichen Frankenberg der 1960er Jahre eine Krimi-Serie spielen zu lassen.

Womit er recht hatte, den Frankenberg war lange Jahre noch vom Krieg geprägt, und diese kriegsversehrte, mitunter dunkle Stadt gibt tatsächlich viel her, wie mir rasch klar wurde. Und so... hat sogar das hessische Frankenberg inzwischen seinen eigenen Noir-Detektiv, der es bereits auf fünf Romane gebracht hat.

Ingo Löchel: Was sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ermittlern bzw. zwischen den einzelnen Krimi-Serien?

Christian Dörge: Die Unterschiede ergeben sich zunächst durch örtliche Besonderheiten und Dynamiken, aber eben auch durch die jeweiligen Professionen der Hauptakteure: Siemen Friesland ist Rechtsanwalt, und so hat er es primär mit Klienten zu tun, die er von einem ganz konkreten Vorwurf befreien muss (in aller Regel vor Gericht, allerdings wird er auch ermittelnd tätig); Privatdetektive wie Jack Kandlbinder, Bruno Macchiavelli oder Remigius Jungblut sind Detektive im klassischen Sinne: Eine Person X wird bei ihnen vorstellig, um Problem Y zu lösen, wobei möglichst Polizei und Justiz nicht involviert werden sollten. Insofern haben es meine Detektive mit allerlei zwielichten Personen zu tun (auch die Klienten sind nicht zwangsläufig Musterbürger), mit der Behinderung durch die Polizei (obwohl es – insbesondere bei Kandlbinder – auch tatkräftige Unterstützung durch einen Münchner Kommissar gibt), und die Fälle, mit denen sie es zu tun bekommen, sind durchaus besonders, mitunter skurril und – womöglich – wendungsreich.

Hinsichtlich der Persönlichkeiten gibt's bei meinen Ermittlern naturgemäß gewisse Überschneidungen, aber eben auch signifikante Unterschiede: Jack Kandlbinder ist ein grüblerischer, in sich gekehrter Mann, durchaus kulturell geprägt durch seine Langzeit-Verlobte (eine Schriftstellerin), gleichwohl ist er knallharter Realist (und er glaubt tatsächlich an Gerechtigkeit) und er ist geneigt, seinen engen Kreis wirklich eng zu halten. Remigius Jungblut – um ein weiteres Beispiel zu nennen – ist im Kontrast dazu eher ein Lebemann, der alles nicht so verkrampft sieht und mit Gerechtigkeit eher pragmatisch umgeht, er ist empathisch, die harte Wirklichkeit seines Berufes ist ihm vollauf gegenwärtig, er leidet jedoch weniger an der Schlechtigkeit der Menschen als Jack Kandlbinder.

Insgesamt statte ich meine Haupt- und Nebencharaktere – zumindest in den Kriminal-Romanen und -Erzählungen – mit einem gewissen Grundgerüst aus, wie es sich mir in den Krimis der 1960er Jahre dargestellt hat: Mit genügend Tiefe, um Schablonen zu vermeiden, aber mit einer genügend großen literarischen Trickkiste, um aus einem Kriminalfall keine Sitzung beim Psychotherapeuten zu machen.

Die Figuren sollen lebendig sein, glaubhaft, sich dynamisch verhalten, allerdings schreibe ich keine Krimis, die sich primär mit dem Privatleben meiner Ermittler beschäftigen oder die bayerische oder norddeutsche oder mittelhessische Detektive in absurde, ins Groteske übersteigerte Karikaturen verwandeln.

Ingo Löchel: Haben Sie literarische Vorbilder, die Sie bei Ihren Romanen inspirieren?

Christian Dörge: Hinsichtlich meiner Kriminal-Romane sind dies wohl Victor Gunn, John Cassells, F. R. Lockridge und natürlich Agatha Christie, was sich insbesondere in meinen Romanen Erinnerungen an das Reich Tschaikowskis und Die Insel des letzten Winters bemerkbar machen dürfte.

Ingo Löchel: Was unterscheidet Ihrer Meinung nach Ihre Romane von anderen Werken des Krimi-Genres?

Christian Dörge: Sofern wir im weitesten Sinne meine Regional-Krimis thematisieren (DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE... klammere ich hier mal aus), vermeide ich zweierlei: 1.) Stadtführung mit Mord und 2.) Klischeefiguren oder Karikatur-artige Protagonisten, von denen Regional-Krimis idR dominiert werden.

Ich wollte nicht die Orte in den Vordergrund stellen, sondern ganz klar die Verbrechen, die Morde, vulgo: den Fall. Und dieser Kriminalfall soll sich ganz organisch, ganz selbstverständlich in einer Stadt wie z. B. München oder dem – fiktiven – Hagensmoor abspielen, ohne, dass die Stadt sich dem Leser aufdrängt und ohne, dass sich die Ermittler von dieser unerträglich quasi-urbayerischen oder quasi-urnordischen Art, wie sie in allzu vielen Regional-Krimis den Ton angibt, ableiten.

Hinzu kommt: Meine Krimis sind gewissermaßen historische Krimis, sie spielen in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Als Krimi-Liebhaber wurde ich insbesondere mit Krimi-Literatur und -Filmen aus dieser Zeit 'sozialisiert'. Diese Zeit, dieses 'Bild' liegt mir ganz offenkundig, und mir war wichtig, diese Zeit so authentisch wie möglich wiederzugeben, ohne Schere im Kopf, mit gemäßigtem Schritt und mit einer überschaubaren Quantität und Qualität an Gewalt.

Ich bezeichne meine Krimis gern als 'Krimis in Schwarz-Weiß', weil meine Romane insbesondere dem deutschen Kriminalfilm der 1960er Jahre folgen. Und hierbei geht es mir als Autor nicht um Verklärung oder Idealisierung, sondern um akkurates Abbilden einer Zeit und der Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben – und darum, einen wertfreien, nicht-ideologischen Blick aus dem Jetzt auf das Damals zu wagen und unaufgeregt in Geschichten umzusetzen.

Ingo Löchel: Stichwort „APOKRYPHON“. Im Gegensatz zu Ihren vielen Kriminalromanen starteten Sie im Jahr 2024 mit „APOKRYPHON“ eine Horror-Serie. Worum geht es darin?

Christian Dörge: Diese Frage zu beantworten... ist recht schwierig. Einerseits, weil ich inhaltlich nicht zu viel vorwegnehmen möchte, andererseits, weil die Erzählstruktur der Romane ausgesprochen komplex ist: Die Handlung spielt sich auf fünf verschiedenen Zeitebenen ab, die Charaktere sind sehr komplex und (noch) unklar in ihren Zielen, und insbesondere die Hauptfigur wird erzählerisch detailreich, aber perspektiv durchaus anspruchsvoll entwickelt. Hinzu kommt: „APOKRYPHON“ spielt in einer Welt, die sich mindestens seit den 1860er Jahren ganz anders entwickelt hat als jene Welt, in der wir leben.

APOKRYPHON ist keine reine Horror-Serie – es finden sich darin starke Elemente des Noir-Krimis (in diesem Sinne ist „APOKRYPHON“ eine Weiterentwicklung dessen, was ich mit „SOUTHERN GODS“ andeutete) und mehr und mehr auch Versatzstücke aus der Science Fiction, was insbesondere in „NOSTROMO“, dem zweiten Roman der Serie, zum Tragen kommt.

Und besonders wichtig: Ein Ausgangspunkt für die Serie ist Lovecrafts Cthulhu-Mythos, allerdings umgesetzt in einer Weise, die es nach meiner Kenntnis bislang noch nicht gegeben hat. Ich beabsichtige also keineswegs, das Rezept von „DER HEXER“ erneut aufzukochen oder ein konkretes Lovecraft-Pastiche zu verfassen.

„APOKRYPHON“ beschreibt eine Welt, in die mehr und mehr Monströses, Unerklärliches, Dämonisches eindringt, eine Welt und insbesondere Personen, die tief verstrickt sind in das Streben und Handeln von dämonischen Wesen, welche die Erde lange vor den Menschen bevölkert haben und die nun: erwachen. In „LUCREZIA OHNE NAMEN“ wird u. a. erzählt, wie eine dieser dämonischen Kreaturen Besitz ergreift von einer Frau, die in weiterer Folge u. a. das Leben des Hauptprotagonisten deutlich beeinflussen und unumkehrbar vergiften wird.

Ingo Löchel: Wie sind Sie auf die Idee zu dieser neuen Serie gekommen?

Christian Dörge: Die Idee ist schon ziemlich alt, sie stammt – auch in ihrer ersten Ausformulierung – aus den 1980er Jahren, konnte aber damals nicht realisiert werden, weil der Verlag, dem es angeboten, derart zahlreiche – um es milde auszudrücken – Vereinfachungen forderte, dass ich dankend abwinkte.

Im Laufe der Jahre kam die Idee immer wieder mal ins Gespräch, aber tatsächlich kann ich die Serie erst jetzt ohne irgendwelche Kompromisse inhaltlicher und stilistischer Art veröffentlichen. Ich mag es nämlich gar nicht, wenn sich Verlage (Redakteure etc.) ständig ungefragt einmischen und wenn sie ihre Leser für weit begriffsstutziger halten, als diese in Wahrheit sind.

Aber wie ich auf die Idee kam... nun, schon seit den 1980ern hatte ich eine recht konkrete Vorstellung davon, Krimi und Horror/Phantastik (und hier insbesondere den Cthulhu-Mythos) miteinander zu verknüpfen, aber eben nicht vorhersehbar und formelhaft; nichts liegt mir ferner, als dass sich aus jedem Gewässer sogleich zahllose Tentakel ranken oder dass ich gar einen Helden benötige, der mit allerlei Waffen-Unsinn gegen jeden beliebigen (und zweifellos schleimigen) Gott-sei-bei-uns zu Felde zieht.

Mein Ansatz ist ein vollständig anderer, und meine Figuren sind ebenfalls anders – sowohl die Guten als auch die Bösen, wobei es in „APOKRYPHON“ eben nicht um Gut und Böse geht, wie schon der Serien-Titel nahelegt.

Ingo Löchel: Wie kann es zu Veröffentlichung im Signum-Verlag, wo die Romane der Serie „APOKRYPHON“ sowohl als Paperback als auch als Ebook erscheinen?

Christian Dörge: Schon in den 1980er Jahren erschienen meine Bücher im Signum-Verlag, und als die Marke im Jahr 2019 wiederbelebt wurde war klar, dass nur Signum für meine Bücher in Frage kam.

Ich brauche eine Struktur, die mir völlig freie Hand lässt, ich will meine Bücher so schreiben, wie ich es mir vorstelle und nicht so, wie es Dritte gern hätten. Ich bin künstlerisch kein Team-Player, weder beim Schreiben noch im Tonstudio oder auf der Bühne; das hat seine guten, bewährten Gründe.

Ingo Löchel: Wer ist der Protagonist der Serie und wie würden Sie ihn beschreiben? Ist er ein bodenständiger Typ oder eher das Gegenteil?

Christian Dörge: Der Hauptprotagonist ist ein in Vancouver tätiger Privatdetektiv namens Jethro Skinner. In der – relativen – Gegenwart ist er dementsprechend professionell, bodenständig, ausgesprochen selbstbewusst, er liebt die Frauen, er trinkt und raucht zu viel, aber sein Leben ist strukturiert, vollständig, nachvollziehbar. Allerdings ist seine Kindheit – behutsam formuliert – nicht frei von Brüchen.

Wir erfahren in „LUCREZIA OHNE NAMEN“ (dem Teaser-Band der Serie) andeutungsweise, dass ein etwa elfjähriger Junge in der Wildnis aufgegriffen wurde, völlig nackt, halb erfroren, stumm. Gefunden wurde er von dem Polizisten Joseph Skinner, der den Jungen adoptiert und ihm den Namen Jethro gibt.

Dennoch verbleibt der Junge bis zu seinem 18. Geburtstag in der Obhut einer Dr. Blackwood, und was es mit ihr auf sich hat, erfährt der Leser in Rückblenden in den Bänden „LUCREZIA OHNE NAMEN“, „DER TRÄUMENDE SOHN“ und „NOSTROMO“, und der Leser erfährt ebenfalls, dass der Junge irgendwie dem Fluss entkommen ist, in dessen Nähe er gefunden worden ist. Jethro erinnert sich an nichts, was zuvor geschehen ist, ihm fehlen also die ersten elf Jahre seines Lebens, auch erinnert sich der Erwachsene Jethro Skinner nicht an die wirklich scheußlichen Dinge, die Dr. Blackwood – die später sogar noch seine Stiefmutter wird – mit ihm angestellt hat. Jethro lernt zwar zu sprechen und entwickelt sich relativ erwartbar, aber der Weg von dem völlig gebrochenen Kind zu dem souveränen, stahlharten Privatdetektiv ist noch voll von Rätseln und Geheimnissen. Jethro Skinner ist tatsächlich: ein Anti-Held, konsequent und kompromisslos durchdekliniert.

Ingo Löchel: Am 29. April 2024 und am 29. Mai 2024 werden mit „DAS BORGIA-BALLETT“ und „ALLES IST DUNKEL“ die nächsten beiden Bände der Serie erscheinen. Worum geht es darin?

Christian Dörge: Auch hier möchte ich noch nicht zu viel verraten, wie Sie gewiss verstehen werden. In „DAS BORGIA-BALLETT“ werden die einzelnen Handlungsbögen weitergeführt, ein weiter dunkler Winkel von Jethros Kindheit wird ebenfalls beleuchtet; eine Fortsetzung im klassischen Sinne. Wie der Titel bereits andeutet, werden neue Verknüpfungen zur Vergangenheit hergestellt.

„ALLES IST DUNKEL“  verändert erstmals den Fokus der Serie – hier steht Jethros Bruder im Vordergrund, und was es mit ihm auf sich hat, dürfte aufmerksamen Lesern von „NOSTROMO“ nicht entgangen sein.

Ingo Löchel: Auf wie viele Bände ist die Serie „APOKRYPHON“ konzipiert?

Christian Dörge: „APOKRYPHON“ ist sehr von ausführlichen Exposés abhängig, sonst würde ich mich zweifellos in meiner eigenen Kreation verirren. Bisher liegen exakt 50 Exposés vor, allerdings noch kein wirkliches Ende.

Es sind also mindestens 50 Bände geplant, bis dahin ist es noch ein weiterer Weg, und es wird sich zeigen, ob „APOKRYPHON“ sowohl künstlerisch als auch geschäftlich funktioniert.

Ingo Löchel: An welchen weiteren Buchprojekten schreiben bzw. arbeiten Sie zurzeit? Können Sie den Lesern des Online-Magazins dazu schon etwas verraten?

Christian Dörge: Nun, nachdem ich derzeit eine ausgiebige Krimi-Pause einlege, widme ich mich diversen anderen Projekten: Zunächst sei an dieser Stelle hier die Serie „APOKRYPHON“ genannt, über die wir eben bereits eingehend gesprochen haben, die sehr viel Zeit beansprucht – eigentlich sogar mehr, als ich erwartet habe.

Für den Herbst/Winter 2024 plane ich die Veröffentlichung einer Sammlung meiner Science-Fiction-Erzählungen, die sich seit ca. 1988 angesammelt haben, sowie die Veröffentlichung eines SF-Romans, einer ziemlich übellaunigen Dystopie.

Ferner entwickle ich – ich lasse das mal als Buch-Projekt durchgehen, weil ich die Drehbücher schreibe – aktuell eine TV-Serie, mit der ich (innerhalb gewisser Toleranzen) dann doch wieder beim Krimi lande, aber in einer Weise, die – wenn's gut läuft – für einiges Erstaunen sorgen dürfte.

Vor allem ist dies ein Projekt, bei dem ich in Jahren denken muss, denn die Abläufe in diesem (für mich noch recht neuen) Geschäft unterliegen Dynamiken und Geschwindigkeiten, die ich als Autor und (zumindest) Co-Produzent nur bedingt beeinflussen kann.

Und – last not least – schreibe ich aktuell an einem neuen Theaterstück, welches eine Art Ergänzung zu dem oben genannten SF-Roman darstellt.

Ingo Löchel: Herr Dörge, vielen Dank für die Beantwortung der Fragen.

Christian Dörge: Ich habe Ihnen zu danken – und ich hoffe, das Interview ist im Ergebnis interessant geraten.

 


Die Romane des Autors Christian Dörge

Futurekill

  • 2017: Lady Cannibal
  • 2020: Jericho Hills 3000

Southern Gods

  • 2017: Trauma

Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace

  • 2021: Die Frau im Dunkel         
  • 2021: Das Gesicht des Alptraums         
  • 2021: Schach mit dem Mörder
  • 2021: Das Seufzen im Atelier     
  • 2022: Die Bienenkönigin     
  • 2022: Die Schritte in der Dunkelheit

Münchener Blut

  • 2021: Münchener Blut 1         
  • 2022: Münchener Blut 2     
  • 2022: Münchener Blut 3         
  • 2022: Münchener Blut 4     
  • 2022: Münchener Blut 5     
  • 2022: Münchener Blut 6     
  • 2022: Morde und Mädchen

Privatdetektiv Kandlbinder

  • 2021: Kandlbinder und die Vampire von München
  • 2021: Kandlbinder und die Hexe von Schwabing     
  • 2022: Kandlbinder und die eiskalte Schöne         
  • 2022: Kandlbinder und der Tag der Asche     
  • 2022: Kandlbinder und der süße Tod     
  • 2022: Kandlbinder und das Mädchen im Bikini     
  • 2023: Kandlbinder und das Ende aller Straßen     
  • 2023: Kandlbinder und die verlorene Tochter     
  • 2023: Kandlbinder und der Tod des Mannequins         
  • 2023: Kandlbinder und der dunkle Engel     
  • 2023: Kandlbinder und die Verdammten     
  • 2024: Kandlbinder und das ungewisse Dunkel     
  • 2024: Kandlbinder und das Andromeda-Rätsel     
  • 2024  Kandlbinder und der letzte Schnee

Privatdetektiv Lafayette Bismarck

  • 2021: Das Lächeln der Witwe     
  • 2022: Der Fächer der Borgia     
  • 2022: Fenster am Abgrund     
  • 2022: Die lasterhafte Tänzerin         
  • 2024: Die Schwester im Schatten    

Privatdetektiv Remigius Jungblut

  • 2021: Drei Tage auf dem Land         
  • 2021: Rauch und falsche Spiegel     
  • 2021: Der Tod unter Glas     
  • 2022: Ein Mädchen verschwindet

Rechtsanwalt Siemen Friesland

  • 2021: Friesland und das blonde Gift     
  • 2021: Friesland und das letzte Spiel     
  • 2021: Friesland und die tote Gräfin     
  • 2022: Friesland und der gespiegelte Mord     
  • 2023: Friesland und der eilige Tod         
  • 2023: Friesland und die Witwen von Hagensmoor

Kunsthändler Seth Sartorius

  • 2023: Sartorius und der Fluch von Venedig         
  • 2023: Sartorius und der Schlaf von Venedig    

Gedeon Sckell

  • 2023: Tödliches Venedig
  • 2023: Tödlicher Schnee
  • 2023: Tödliche Epiphanie

Apokrypon

  • 2024: Der träumende Sohn
  • 2024: Nostromo
  • 2024: Das Borgia-Ballett (29. April 2024)
  • 2024: Alles ist dunkel (29. Mai 2024)

Sonstige Romane/Kriminalromane

  • 1987: Phenomena
  • 2021: Erinnerungen an das Reich Tschaikowskis
  • 2021: Der Schnee
  • 2022: Der Tod auf dem Schnee
  • 2022: Dezember im Nebel
  • 2022: Münchner Mörder-Weihnacht
  • 2023: Mord in der Universität
  • 2023: Morgen ist gestern
  • 2023: Das schwarz-weiße Blut
  • 2023: Die goldene Nymphe
  • 2023: Ein Fremder wird gejagt
  • 2023: Der Mann im Schnee
  • 2023: Kafka und der Schatten über dem Fluss
  • 2023: Mord in Finstergrund
  • 2024: Der bleiche Raum
  • 2024: Die Insel des letztens Winters

2 Kommentare:

Christian Dörge hat gesagt…

Dankeschön fürs Interesse und für Ihre Mühen!
Herzlichst,
Christian Dörge

The Black Book Magazine hat gesagt…

Ich habe zu danken. Viele Grüße, Ingo Löchel